B. Die Mitglieder
Jonas Grethlein
Antrittsrede vom 29. Oktober 2022
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr
geehrte Sekretäre, liebe Kolleginnen
und Kollegen,
wer um die Jahrhundertwende Lite-
ratur- und Geschichtswissenschaf-
ten studierte, ist mit einer gehörigen
Dosis Skepsis gegen lineare Erzäh-
lungen und teleologische Konstruk-
tionen geimpft. Zugleich dürfte er
mit wachsender Lebenserfahrung
auch gelernt haben: Man entkommt g
dem Erzählen nicht. Dass man Er-
fahrungen ganz verschieden er-
zählen kann, heißt nicht, dass man |
nicht erzählen darf Im Gegenteil: -|
Es zwingt dazu immer wieder zu er-
zählen, es zwingt dazu, die Vergan-
genheit vom Standpunkt der jewei-
ligen Gegenwart neu zu erfassen.
Die perhorreszierte Retrospektive des Erzählers ist unabdingbar, um dem Leben
Sinn zu geben; sie scheint über Zeiten und Kulturen hinweg eine Konstante zu
sein. Manchmal ist sie auch eine Konvention, etwa bei der akademischen Antritts-
rede.
Deswegen meine Selbstvorstellung ohne Apologie linear und teleologisch:
Geboren wurde ich 1978 in München als Sohn eines Theologen und einer Son-
derschullehrerin. Kindheit und Jugend waren bestimmt von Umzügen: Die ers-
ten zehn Lebensjahre wohnte ich in Bayern: in München, Regensburg und einem
oberfränkischen Dorf, das so klein war, dass ich zum Fußballtraining ins Nachbar-
dorf fahren musste. Dann wurden meine Schwester und ich nach Berlin umgezo-
gen, immerhin für sechs Jahre. Ich spielte nicht mehr Fußball, sondern Volleyball
und war auf dem Weg in die Semiprofessionalität, als wir weiterzogen nach Halle
an der Saale. Dort - Sachsen-Anhalt war unangefochten das Schlusslicht im Bil-
dungsranking der Bundesländer - machte ich das Abitur. So herausfordernd die
vielen verschiedenen Wohnorte auch waren, sie sensibilisierten mich für die sozio-
kulturelle Prägung von Lebensformen. Deren historische Dimension wurde mir
in Berlin beim Fall der Mauer und dann im Alltag in Halle vor Augen geführt. Ist
es verwunderlich, dass ich Historiker werden wollte?
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Jonas Grethlein
Antrittsrede vom 29. Oktober 2022
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr
geehrte Sekretäre, liebe Kolleginnen
und Kollegen,
wer um die Jahrhundertwende Lite-
ratur- und Geschichtswissenschaf-
ten studierte, ist mit einer gehörigen
Dosis Skepsis gegen lineare Erzäh-
lungen und teleologische Konstruk-
tionen geimpft. Zugleich dürfte er
mit wachsender Lebenserfahrung
auch gelernt haben: Man entkommt g
dem Erzählen nicht. Dass man Er-
fahrungen ganz verschieden er-
zählen kann, heißt nicht, dass man |
nicht erzählen darf Im Gegenteil: -|
Es zwingt dazu immer wieder zu er-
zählen, es zwingt dazu, die Vergan-
genheit vom Standpunkt der jewei-
ligen Gegenwart neu zu erfassen.
Die perhorreszierte Retrospektive des Erzählers ist unabdingbar, um dem Leben
Sinn zu geben; sie scheint über Zeiten und Kulturen hinweg eine Konstante zu
sein. Manchmal ist sie auch eine Konvention, etwa bei der akademischen Antritts-
rede.
Deswegen meine Selbstvorstellung ohne Apologie linear und teleologisch:
Geboren wurde ich 1978 in München als Sohn eines Theologen und einer Son-
derschullehrerin. Kindheit und Jugend waren bestimmt von Umzügen: Die ers-
ten zehn Lebensjahre wohnte ich in Bayern: in München, Regensburg und einem
oberfränkischen Dorf, das so klein war, dass ich zum Fußballtraining ins Nachbar-
dorf fahren musste. Dann wurden meine Schwester und ich nach Berlin umgezo-
gen, immerhin für sechs Jahre. Ich spielte nicht mehr Fußball, sondern Volleyball
und war auf dem Weg in die Semiprofessionalität, als wir weiterzogen nach Halle
an der Saale. Dort - Sachsen-Anhalt war unangefochten das Schlusslicht im Bil-
dungsranking der Bundesländer - machte ich das Abitur. So herausfordernd die
vielen verschiedenen Wohnorte auch waren, sie sensibilisierten mich für die sozio-
kulturelle Prägung von Lebensformen. Deren historische Dimension wurde mir
in Berlin beim Fall der Mauer und dann im Alltag in Halle vor Augen geführt. Ist
es verwunderlich, dass ich Historiker werden wollte?
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