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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Frank, Manfred: Dieter Henrich (05.01.1927 – 17.12.2022)
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0239
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Nachruf auf Dieter Henrich

Prämissen zu plausibilieren, als sie dem Autor selbst zur Verfügung standen. So
hat er die Grundintuition hinter Kants dunkler, aber werkentscheidender „De-
duktion der Kategorien“ in einem kleinen Büchlein Identität und Objektivität (1976)
mit großer Klarheit freigelegt. (Hier ist der Kerngedanke, dass Kant die Objekti-
vität von Gegenständen aus der Wahrheit elementarer Aussagen - die er „Urteils-
formen“ nennt - verständlich macht.) Und nach derselben Methode ist auch das
schnüffelnde Herumtappen und Gründeln nach einer genauen Bestimmung des-
sen, worin Hegels gedankliche Grundoperation denn eigentlich bestanden habe,
erst durch Henrichs kleine Aufsätze von Anfang der 1970er Jahre (beginnend mit
dem unscheinbar betitelten edition-suhrkamp-Bändchen Hegel im Kontext, 1971)
einer deutlichen Erkenntnis gewichen. (Hier ist der Kerngedanke, dass Hegel die
Negation „autonom“ denkt, also nicht, wie in der Aussagenlogik, als bezogen auf
einen von ihr unabhängigen Gegenstand, der nach ihrem Selbstbezug - der Selbst-
verneinung - übrigbliebe; vielmehr entspringe die einzige Form von Positivität aus
der Selbstnegation der Negation.)
Ich erwähne eine weitere Entdeckung Henrichs, die ihn seit den späten 1980er
Jahren fast ausschließlich in Atem hielt und sich in seinen umfangreichsten Pub-
likationen und Editionen niederschlug. Es ist die, dass die „enragierten“ Kantianer
unter Reinholds Schülern - deren bedeutendster Johann Benjamin Erhard war
- nicht die alte Metaphysik durch Ableitung wahrer Sätze aus einem vermeinten
„obersten Grundsatz“ wiederherstellen wollten, sondern im Gegenteil die Mög-
lichkeit einer Grundsatzphilosophie im Kern bestritten. Das wissen wir erst aus
den Früchten von Henrichs durch das Land Bayern finanziertem Jena-Projekt, das
die alte Idealismus-Forschung umgestürzt hat. Henrich hat es sehr einseitig auf
den bis dahin kaum bekannten Immanuel Carl Diez, einen ehemaligen Stiftslehrer
(„Repetenten“) von Hegel, Hölderlin und Schelling, und auf Friedrich Hölderlin
zugeschustert. Hölderlin als Philosoph - das ist eine von Henrichs großen Entde-
ckungen.
Vor der Frühromantik als philosophischer Bewegung ist Henrich dagegen
zurückgezuckt. Das ist darum merkwürdig, weil Friedrich von Hardenbergs (No-
valis4) und Friedrich Schlegels frühes Denken fast aus den gleichen Ausbildungs-
verhältnissen, insbesondere der Grundsatzkritik der Reinhold-Schüler, erklärt
werden kann, die Henrich in seiner großen Hölderlin-Monographie von 1992
(Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken [1794-1795f) und
in der monumentalen Arbeit Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorge-
schichte des Idealismus. Tübingen - Jena 1790-1794 (2004) minutiös freigelegt hat.
Unser Briefwechsel handelte zu einem guten Teil von dieser Parallele; und ich
finde in einem Brief vom 5. Mai 1987, der die Sendung des Büchleins Konzepte
begleitete, das launige Zugeständnis: „,Romantisch4 bin ich ja am besten im Blick
auf die nicht aktualisierte Unendlichkeit zu fassen. Denn seit meiner Habilitation,
die auch schon ein Ausweichen (vor allem vor einem großen Kant-Thema) war,

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