B. Die Mitglieder
Diese Bekanntschaft wird also von der „Reflexionstheorie“ nicht erklärt, sondern
erschlichen.
Es bedurfte mithin einer Neujustierung des zugrundeliegenden Modells,
denn die Existenz von Selbstbewusstsein stand ja nicht in Zweifel. Nicht in einer
Selbstvergegenständlichung, sondern in einer „unmittelbaren“, d. h., durch kein
zweites Glied vermittelten Kenntnis besteht es. Es war also ursprünglich auch
nicht als eine hochstufig kognitive Leistung zu beschreiben, nicht als ein Wissen
von sich.
Dies getan zu haben, hat der Neurobiologe und Philosoph Antonio Damäsio
später (1994) als „Descartes4 Irrtum“ diagnostiziert. Der habe Selbstbewusstsein
zu den höheren kognitiven Leistungen des menschlichen Geistes gezählt und es
Embryonen, Tieren und dem elementaren Gefühlsleben der Menschen abgespro-
chen. Auch Heinrich hatte 1970 darauf hingewiesen, dass wir mit dem „Gewahren
(awareness) in Tieren (...) mehr gemein haben, als die Reflexionstheorie des Be-
wußtseins zugeben könnte“. Die Überschätzung der Reflexion habe dazu beige-
tragen, „zwischen uns und den Tieren einen unendlichen Abstand einzurichten,
der für Jahrhunderte skandalösen Verhaltens ihnen gegenüber mit verantwort-
lich gemacht werden muß“. Auch Psychologie und Psychiatrie interessierten sich
plötzlich für die Elementarität von Selbstbewusstsein: Schizophrene - so wurde
argumentiert - müssen elementar mit sich „vertraut“ sein (wie Henrich sagt), um
sich - leidend - den Einflüsterungen eines fremden Ichs ausgesetzt fühlen zu kön-
nen. Das mindert nicht den Dignitäts-Vorsprung höherstufiger selbstbewusster
Dewfeleistungen, lässt sie aber auf einem Milieu vorbegrifflicher „Prä-reflexivität“
aufruhen, das Henrich insbesondere in zwei Aufsätzen der Jahre 1970 und 1971
(Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie und Selbstsein und Bewußtsein)
bahnbrechend erschlossen hat.
Henrich hat weniger mit eigenen Theorien brilliert als durch sein einzigarti-
ges Talent, die Texte der klassischen deutschen Philosophie so zu lesen, dass unver-
sehens nie zuvor realisierte Einsichten aus ihnen hervorleuchteten. Sie waren ganz
frei vom Staub der Antiquiertheit und boten sich dar als brandaktuelle Entdeckun-
gen. Henrichs Ehrgeiz war, die Grundeinsicht eines Autors zu erschließen und sie
gegen die unzureichende Weise abzuheben, mit der dieser Autor sie begründet hat.
Dabei ging Henrich von der Überzeugung aus, dass Philosophen Werke verfassen,
ohne imstande zu sein, das darin wirksame treibende Motiv kenntlich zu machen.
„Sie tun es, aber sie wissen es nicht.“ So haben wir einen ziemlich neuen und
ungleich komplexeren, aber auch spannenderen und zugleich verständlicheren
Kant kennengelernt, als es uns eine fast 200jährige Auslegungstradition hat ahnen
lassen. Henrich nannte sein Verfahren, in Gegenstellung gegen den „paraphrasie-
rend-erläuternden und den genetischen Kommentar“, die „argumentierende Re-
konstruktion“. Sie erschließt Grundgedanken eines Autors, indem sie nötigenfalls
vom Wortlaut seiner Schriften abweicht, um seine Konsequenzen aus triftigeren
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Diese Bekanntschaft wird also von der „Reflexionstheorie“ nicht erklärt, sondern
erschlichen.
Es bedurfte mithin einer Neujustierung des zugrundeliegenden Modells,
denn die Existenz von Selbstbewusstsein stand ja nicht in Zweifel. Nicht in einer
Selbstvergegenständlichung, sondern in einer „unmittelbaren“, d. h., durch kein
zweites Glied vermittelten Kenntnis besteht es. Es war also ursprünglich auch
nicht als eine hochstufig kognitive Leistung zu beschreiben, nicht als ein Wissen
von sich.
Dies getan zu haben, hat der Neurobiologe und Philosoph Antonio Damäsio
später (1994) als „Descartes4 Irrtum“ diagnostiziert. Der habe Selbstbewusstsein
zu den höheren kognitiven Leistungen des menschlichen Geistes gezählt und es
Embryonen, Tieren und dem elementaren Gefühlsleben der Menschen abgespro-
chen. Auch Heinrich hatte 1970 darauf hingewiesen, dass wir mit dem „Gewahren
(awareness) in Tieren (...) mehr gemein haben, als die Reflexionstheorie des Be-
wußtseins zugeben könnte“. Die Überschätzung der Reflexion habe dazu beige-
tragen, „zwischen uns und den Tieren einen unendlichen Abstand einzurichten,
der für Jahrhunderte skandalösen Verhaltens ihnen gegenüber mit verantwort-
lich gemacht werden muß“. Auch Psychologie und Psychiatrie interessierten sich
plötzlich für die Elementarität von Selbstbewusstsein: Schizophrene - so wurde
argumentiert - müssen elementar mit sich „vertraut“ sein (wie Henrich sagt), um
sich - leidend - den Einflüsterungen eines fremden Ichs ausgesetzt fühlen zu kön-
nen. Das mindert nicht den Dignitäts-Vorsprung höherstufiger selbstbewusster
Dewfeleistungen, lässt sie aber auf einem Milieu vorbegrifflicher „Prä-reflexivität“
aufruhen, das Henrich insbesondere in zwei Aufsätzen der Jahre 1970 und 1971
(Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie und Selbstsein und Bewußtsein)
bahnbrechend erschlossen hat.
Henrich hat weniger mit eigenen Theorien brilliert als durch sein einzigarti-
ges Talent, die Texte der klassischen deutschen Philosophie so zu lesen, dass unver-
sehens nie zuvor realisierte Einsichten aus ihnen hervorleuchteten. Sie waren ganz
frei vom Staub der Antiquiertheit und boten sich dar als brandaktuelle Entdeckun-
gen. Henrichs Ehrgeiz war, die Grundeinsicht eines Autors zu erschließen und sie
gegen die unzureichende Weise abzuheben, mit der dieser Autor sie begründet hat.
Dabei ging Henrich von der Überzeugung aus, dass Philosophen Werke verfassen,
ohne imstande zu sein, das darin wirksame treibende Motiv kenntlich zu machen.
„Sie tun es, aber sie wissen es nicht.“ So haben wir einen ziemlich neuen und
ungleich komplexeren, aber auch spannenderen und zugleich verständlicheren
Kant kennengelernt, als es uns eine fast 200jährige Auslegungstradition hat ahnen
lassen. Henrich nannte sein Verfahren, in Gegenstellung gegen den „paraphrasie-
rend-erläuternden und den genetischen Kommentar“, die „argumentierende Re-
konstruktion“. Sie erschließt Grundgedanken eines Autors, indem sie nötigenfalls
vom Wortlaut seiner Schriften abweicht, um seine Konsequenzen aus triftigeren
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