Annäherung an Gott im Kloster | 75
Benediktsregel eine regelmäßige Tischlesung vorsieht. ⁷⁶ Eine besonders wichtige
Rolle kommt in Wilhelms Anweisungen von Anfang an dem Gebet zu, in dem man
sich Gott nähert, damit Gott einem nahekommt. ⁷⁷ Das Gebet ⁷⁸ hat je nach dem
Bedürfnis des Betenden verschiedene Gestalten, zu denen man angeleitet werden
muss. ⁷⁹ Bei allen Fortschritten, die man von einer Stufe zu einer höheren macht,
muss immer bedacht werden, dass die Weisheit nach Sap. 6, 14 denen zuvorkommt,
die sie suchen. Mit Worten, die an die Lehre vom »Unbewegten Beweger« in Metaphysik
Λ des Aristoteles erinnern, beschreibt Wilhelm, wie Gott den, der ihn
anschaut, bewegt und voranbringt und wie die Schönheit des höchsten Gutes den
anzieht, der es betrachtet. ⁸⁰ Kennzeichnend für den christlichen Autor ist freilich,
wie er die Rolle der Gnade bei der Annäherung des Menschen betont. ⁸¹ Die eingehenden
anthropologischen und psychologischen Überlegungen, die Wilhelm in
diesem Zusammenhang anstellt, können hier nicht dargestellt werden. Doch soll
noch ein Blick auf die Vollendung der Annäherung an Gott geworfen werden. An
einem gewissen Punkt, wenn der Wille des fortschreitenden Menschen zur Liebe
wird, ergieße sich durch Vermittlung der Liebe der Heilige Geist in ihn und führe
ihn zur höchsten geistlichen Erfahrung. ⁸² Gleichgerichtetes Wollen mache den
Menschen Gott ähnlich. ⁸³ Darüber hinaus spricht Wilhelm aber auch deutlich von
einer willensmäßigen, durch Liebe (dilectio) bewirkten Einung des Menschen mit
Gott. ⁸⁴ Neben der Ähnlichkeit mit Gott könne der Mensch durch Einwirkung des
Heiligen Geistes eine Einheit mit Gott erreichen, die mehr sei als eine Einheit des
gleichen Wollens: vielmehr auch eine des Vermögens (virtus), ⁸⁵ die eine Einheit des
Geistes darstelle. ⁸⁶ In immer neuen Anläufen beschreibt Wilhelm diese Einung, die
76 Regula Benedicti (wie Anm. 4), cap. 38, S. 128/130.
77 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 169, S. 278: docendus est etiam animalis incipiens
et Christi tyrunculus Deo appropinquare, ut et Deus appropinquet ei.
78 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 179, S. 288: Oratio vero est hominis Deo adhaerentis
affectio et familiaris quaedam et pia allocutio et statio illuminatae mentis ad fruendum Deo
quamdiu licet.
79 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 176 –186, S. 286 –294.
80 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 195, S. 304: Adjuvat enim Deus vultu suo se
intuentem, movet et promovet, et attrahit species summi boni se contemplantem.
81 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 196, S. 304: Cumque ratio proficiendo in amorem
sursum ascendit et amanti et desideranti gratia condescendit, unum saepe fiunt, quae duos illos status
efficiunt, quae sunt ratio et amor, et quae ex eis efficiuntur, scilicet sapientia et scientia.
82 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 249, S. 342.
83 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 258, S. 348.
84 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 257, S. 348.
85 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 262, S. 352/354: cum fit homo unum cum Deo,
unus spiritus, non tantum unitate idem volendi, sed expressiore quadam veritate virtutis, sicut jam
dictum est, aliud velle non valendi.
86 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 263, S. 354.
Benediktsregel eine regelmäßige Tischlesung vorsieht. ⁷⁶ Eine besonders wichtige
Rolle kommt in Wilhelms Anweisungen von Anfang an dem Gebet zu, in dem man
sich Gott nähert, damit Gott einem nahekommt. ⁷⁷ Das Gebet ⁷⁸ hat je nach dem
Bedürfnis des Betenden verschiedene Gestalten, zu denen man angeleitet werden
muss. ⁷⁹ Bei allen Fortschritten, die man von einer Stufe zu einer höheren macht,
muss immer bedacht werden, dass die Weisheit nach Sap. 6, 14 denen zuvorkommt,
die sie suchen. Mit Worten, die an die Lehre vom »Unbewegten Beweger« in Metaphysik
Λ des Aristoteles erinnern, beschreibt Wilhelm, wie Gott den, der ihn
anschaut, bewegt und voranbringt und wie die Schönheit des höchsten Gutes den
anzieht, der es betrachtet. ⁸⁰ Kennzeichnend für den christlichen Autor ist freilich,
wie er die Rolle der Gnade bei der Annäherung des Menschen betont. ⁸¹ Die eingehenden
anthropologischen und psychologischen Überlegungen, die Wilhelm in
diesem Zusammenhang anstellt, können hier nicht dargestellt werden. Doch soll
noch ein Blick auf die Vollendung der Annäherung an Gott geworfen werden. An
einem gewissen Punkt, wenn der Wille des fortschreitenden Menschen zur Liebe
wird, ergieße sich durch Vermittlung der Liebe der Heilige Geist in ihn und führe
ihn zur höchsten geistlichen Erfahrung. ⁸² Gleichgerichtetes Wollen mache den
Menschen Gott ähnlich. ⁸³ Darüber hinaus spricht Wilhelm aber auch deutlich von
einer willensmäßigen, durch Liebe (dilectio) bewirkten Einung des Menschen mit
Gott. ⁸⁴ Neben der Ähnlichkeit mit Gott könne der Mensch durch Einwirkung des
Heiligen Geistes eine Einheit mit Gott erreichen, die mehr sei als eine Einheit des
gleichen Wollens: vielmehr auch eine des Vermögens (virtus), ⁸⁵ die eine Einheit des
Geistes darstelle. ⁸⁶ In immer neuen Anläufen beschreibt Wilhelm diese Einung, die
76 Regula Benedicti (wie Anm. 4), cap. 38, S. 128/130.
77 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 169, S. 278: docendus est etiam animalis incipiens
et Christi tyrunculus Deo appropinquare, ut et Deus appropinquet ei.
78 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 179, S. 288: Oratio vero est hominis Deo adhaerentis
affectio et familiaris quaedam et pia allocutio et statio illuminatae mentis ad fruendum Deo
quamdiu licet.
79 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 176 –186, S. 286 –294.
80 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 195, S. 304: Adjuvat enim Deus vultu suo se
intuentem, movet et promovet, et attrahit species summi boni se contemplantem.
81 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 196, S. 304: Cumque ratio proficiendo in amorem
sursum ascendit et amanti et desideranti gratia condescendit, unum saepe fiunt, quae duos illos status
efficiunt, quae sunt ratio et amor, et quae ex eis efficiuntur, scilicet sapientia et scientia.
82 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 249, S. 342.
83 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 258, S. 348.
84 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 257, S. 348.
85 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 262, S. 352/354: cum fit homo unum cum Deo,
unus spiritus, non tantum unitate idem volendi, sed expressiore quadam veritate virtutis, sicut jam
dictum est, aliud velle non valendi.
86 Guillaume de Saint-Thierry, Lettre (wie Anm. 46), cap. 263, S. 354.