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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0322
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318 | II. Die Abtei von Marchiennes

Fazit
Das erste Buch der Miracula Sanctae Rictrudis Galberts von Marchiennes zielt in
besonderer Weise darauf ab, die Heiligkeit des Ortes und der dortigen Mönchsge-
meinschaft hervorzuheben. In seinem Zentrum steht das Verhältnis der Klosterpa-
tronin zu der gesamten Gemeinschaft und zu jedem einzelnen ihrer Mitglieder. Nur
durch ein besonders würdiges Leben und durch völlige Hingabe an die Heilige und
ihr Kloster wurden die Brüder von Marchiennes ihrer Patronin gerecht. Hierzu
gehörte nicht zuletzt auch die Sorge um den Kult der Heiligen. Im Gegenzug sorgte
sich die heilige Rictrud um das körperliche aber auch um das seelische Wohl der
Brüder. Die Krise des Klosters unter Abt Fulchard störte dieses Verhältnis emp-
findlich, da sowohl der Kult als auch das klösterliche Leben zum Erliegen kamen.
Die Heilige habe den Ort, an dem ihre Gebeine ruhten, allerdings nicht aufgegeben,
sondern letztlich mit dazu beigetragen, dass der verantwortliche Abt zur Rechen-
schaft gezogen wurde und ein Neuanfang gewagt werden konnte.
Die im ersten Buch aufgeführten Wunder lassen sich zu einem Gutteil in die
Zeit der correctio der Gemeinschaft datieren. Die Heilige fungiert hierbei auf un-
terschiedliche Weise: So kann sie durch Wunder und göttliche Gnadenbeweise neue
Mönche für die Gemeinschaft gewinnen, die sich voll und ganz für das Kloster
einsetzen. Durch ihre Wunder warnte und besserte sie jene Mönche, die ein wenig
würdiges Leben führten oder ihren Dienst am Kloster und der Heiligen vernachläs-
sigen. Mit seinen Beispielen spricht Galbert aber zugleich die wichtigsten Gruppen
innerhalb der Gemeinschaft von Marchiennes an: mit Rainer einen Bekehrten nie-
derer sozialer Herkunft, mit Balduin einen bekehrten Ritter,1286 mit Wilhelm einen
Priestermönch und schließlich mit Galbert einen jener Mönche, der reumütig in den
Dienst der Heiligen zurückgekehrt war. Jeder Mönch der Gemeinschaft hat somit
die Möglichkeit, sich mit einem oder mehreren dieser Beispiele zu identifizieren.
Die Mirakelberichte leisten daher nicht nur einen wichtigen Beitrag zur spirituellen
Erbauung der Brüder, sondern auch zur Identitätsfindung der sich neu etablieren-
den Gemeinschaft.
Letzteres wird besonders deutlich an der in den Miracula immer wieder thema-
tisierten Zugehörigkeit und Dienerschaft der Mönche. So ist jeder in Marchiennes
eingetretene Mönch auf immer Diener der dortigen Heiligen und sollte sich seiner
Zugehörigkeit sehr bewusst sein. Galberts eigenes Leben zeigt exemplarisch, dass
die heilige Rictrud sich um ihre Diener kümmerte und sie beschützte, sie aber auch
züchtigte, wenn sie ihren Dienst missachteten. Galbert legt hier ein Denkmodell

1286 Auf dieses Beispiel wurde nicht gesondert eingegangen; siehe dazu oben Anm. 1273.
 
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