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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0514
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510 | IV. Die Abtei von Anchin

Verhalten Gossuins sei, so der Autor der Vita prima, nicht etwa durch Missgunst
zu erklären. Vielmehr seien bereits so viele Mönche aus Anchin, die Gossuin zu viri
perfecti erzogen hatte, in höhere Ämter aufgestiegen. Er stellt daher die Frage, was
es Gossuin genützt hätte, wenn andere Häuser durch diese Männer zum Blühen
gebracht worden wären, aber das eigene Haus zu welken begonnen hätte.2086 Diese
Passage zeigt zunächst, dass im Falle Honnecourts der Bischof von Cambrai die
treibende Kraft hinter dieser Wahl war und nicht etwa der Abt von Anchin. Beson-
ders interessant ist dabei, dass sich diese Situation gut zwanzig Jahre später 1155 in
ähnlicher Weise wiederholen sollte. Diesmal wählten die Brüder von Hautemont
Clarembald von Anchin zu ihrem Abt. Erneut war es der Bischof von Cambrai,
Nikolaus, gewesen, der Gossuins Zustimmung zu dieser Wahl suchte. Die Vita
prima berichtet nun, wie Gossuin auf unterschiedlichste Weise versucht habe, dem
Bischof aus dem Weg zu gehen, um nicht mit der Angelegenheit konfrontiert zu
werden. Letztlich habe er sich aber den Bitten des Bischofs nicht entziehen können
und sein Einverständnis gegeben.2087
Die Vita bemerkt nach diesen beiden Beispielen, dass dem Leser damit vor
Augen geführt werden sollte, wie schwer es Gossuin gefallen sei, sich von jenen
zu trennen, denen er die charitas gelehrt habe.2088 Diese doch sehr geschönte ab-
schließende Erklärung, kann aber den zu Beginn der Passage genannten Grund für
Gossuins Widerstand nicht überdecken. Die Angst, die guten und fähigen Mönche
der Gemeinschaft zu verlieren, war demnach in den 1130er Jahren besonders groß.
Angesichts der Tatsache, dass ab 1131 beinahe jährlich ein Mönch aus Anchin die
Leitung eines Klosters übernahm, lässt sich diese Angst nachvollziehen. Interes-
santerweise berichtet die Vita prima nichts Vergleichbares über die Wahl Lietberts
von Marchiennes 1136. Ob dies daran liegt, dass diese Gemeinschaft im Gegensatz
zu Honnecourt eine sehr enge Beziehung mit Anchin unterhielt, oder daran, dass
Lietbert durch seinen Amtsrücktritt nur bedingt vorzeigbar war, lässt sich nur ver-
muten. Ganz anders verhält es sich dagegen mit der Wahl Clarembalds. Sie fand
2086 R. Gibbon, Vita Gosuini prima, II, c. 12, S. 167: »Neque vero promotioni filiorum, quos per Evan-
gelium genuerat, lactaverat, nutrierat, & in viros perfectos formaverat, assensum facile commodabat,
timendo utique sibi, non cuilibet invidendo. Quid enim proderat ei, si domus aliae reflorerent, dum
marcescere contingeret Aquicinctensem paradisum?«
2087 R. Gibbon, Vita Gosuini prima, II, c. 22, S. 168 -169: »Nec levius passus est sibi surripi vir Clarembal-
dum, pro quo nobilis vir Nicolaus Cameracensis Episcopus instabat opportune importune. Gosui-
nus a facie ipsius, quaqueversum poterat, fugiebat, hinc Rhemis, hinc Atrebati, hinc alibi praesentiam
suam occultando. Investigabat latitantem, sequebatur fugitantem, obsidebat pavitatem venator astu-
tissimus Nicolaus, & tot ei tendiculas extendit precatorum, tot buccinas admovit ei praeceptorum,
tot promissorum proposuit instrumenta; ut eum tandem vix ad suos incuruaret conatus, & ad libitus
inclinaret.«
2088 R. Gibbon, Vita Gosuini prima, II, c. 12, S. 169: »Haec incidenter sunt inserta, ut patear quam non
leviter ab iis, quos ei charitas invisceraverat, eviscerari se pateretur.«
 
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