538 | Schlussfolgerungen
»Reform« dagegen die correctio einer Gemeinschaft und ihren ganz individuellen
Versuch, institutionelle Stabilität zu erreichen, ist diese Bezeichnung durchaus zu-
treffend.
3.4. Die discretio, Mutter der Tugenden
Die Regula Benedicti bezeichnet die discretio als die Mutter der Tugenden; discretio
darf als einer ihrer Schlüsselbegriffe gelten.2113 Unter der discretio versteht die Regel
die Fähigkeit eines Mönchs, über sein eigenes Handeln abzuwägen - eine Fähig-
keit, die er im Laufe seines klösterlichen Daseins erwerben muss. Diese Befähigung
sollte jeder Mönch besitzen und im vorgegebenen Rahmen auch anwenden. In ih-
rem Antwortschreiben an Matthäus von Albano, der sich entschieden gegen das in
Reims beschlossene »ewige Schweigen« aussprach, verwiesen die abbates compro-
vinciales auf die discretio eines jeden Mönchs. Es stehe nämlich jedem Einzelnen
frei zu entscheiden, ob er in den vorgesehenen Redezeiten das Wort ergreift oder
lieber schweigt.2114 Die discretio räumte den Mönchen somit mehr oder weniger
große Spielräume bei der alltäglichen Umsetzung der Regeln und Gewohnheiten
ein. Eine noch weit bedeutendere Rolle nimmt die discretio im Zusammenhang
mit der Ausübung bestimmter Ämter, wie zum Beispiel jenem des Abtes oder des
Klaustralpriors, ein. Besonders deutlich wird dies bei Gossuin von Anchin.
Die Vita Gosuini prima verbindet den übergroßen Erfolg der von Gossuin in
vielen Gemeinschaften angestoßenen correctio mit eben dieser Tugend. Für die Um-
setzung einer auf die Lebensweise der Brüder abzielenden correctio bedeutet dies,
abzuwägen, welche Neuerungen sinnvoll und durchsetzbar waren, aber auch wel-
che Kompromisse sich finden ließen. Die discretio gehörte nicht zuletzt auch zu den
wichtigsten Führungsqualitäten eines Abtes. Hermann umschreibt dies mit dem
Begriff der probitas, der die besonderen Fähigkeiten eines Abtes in den weltlichen
und geistlichen Angelegenheiten umgreift und Garant für eine gelungene correctio
war.
Das Prinzip der discretio ist für das Verständnis von correctio äußerst zentral, da
es den Äbten und Mönchen bei der Umsetzung der entsprechenden Neuerungen
große Spielräume erlaubte. Die discretio als oberste Tugend steht somit für die Of-
2113 Zur discretio RB 2, 24; 34, 2; 37; 64, 17-20: »matris virtutum«; M. Puzicha, Kommentar zur Benedik-
tusregel, S. 549-550.
2114 S. Ceglar, Guillaume de Saint-Thierry, S. 334: »Nunc enim lex mandatorum Dei ea nobis auctoritate
indicitur cui contradicere nefas ducitur, contra eundem Apostolum, qui de Domino lesu Christo libere
praedicat, legem mandatorum decretis cum discretione et ratione datis evacuans.«
»Reform« dagegen die correctio einer Gemeinschaft und ihren ganz individuellen
Versuch, institutionelle Stabilität zu erreichen, ist diese Bezeichnung durchaus zu-
treffend.
3.4. Die discretio, Mutter der Tugenden
Die Regula Benedicti bezeichnet die discretio als die Mutter der Tugenden; discretio
darf als einer ihrer Schlüsselbegriffe gelten.2113 Unter der discretio versteht die Regel
die Fähigkeit eines Mönchs, über sein eigenes Handeln abzuwägen - eine Fähig-
keit, die er im Laufe seines klösterlichen Daseins erwerben muss. Diese Befähigung
sollte jeder Mönch besitzen und im vorgegebenen Rahmen auch anwenden. In ih-
rem Antwortschreiben an Matthäus von Albano, der sich entschieden gegen das in
Reims beschlossene »ewige Schweigen« aussprach, verwiesen die abbates compro-
vinciales auf die discretio eines jeden Mönchs. Es stehe nämlich jedem Einzelnen
frei zu entscheiden, ob er in den vorgesehenen Redezeiten das Wort ergreift oder
lieber schweigt.2114 Die discretio räumte den Mönchen somit mehr oder weniger
große Spielräume bei der alltäglichen Umsetzung der Regeln und Gewohnheiten
ein. Eine noch weit bedeutendere Rolle nimmt die discretio im Zusammenhang
mit der Ausübung bestimmter Ämter, wie zum Beispiel jenem des Abtes oder des
Klaustralpriors, ein. Besonders deutlich wird dies bei Gossuin von Anchin.
Die Vita Gosuini prima verbindet den übergroßen Erfolg der von Gossuin in
vielen Gemeinschaften angestoßenen correctio mit eben dieser Tugend. Für die Um-
setzung einer auf die Lebensweise der Brüder abzielenden correctio bedeutet dies,
abzuwägen, welche Neuerungen sinnvoll und durchsetzbar waren, aber auch wel-
che Kompromisse sich finden ließen. Die discretio gehörte nicht zuletzt auch zu den
wichtigsten Führungsqualitäten eines Abtes. Hermann umschreibt dies mit dem
Begriff der probitas, der die besonderen Fähigkeiten eines Abtes in den weltlichen
und geistlichen Angelegenheiten umgreift und Garant für eine gelungene correctio
war.
Das Prinzip der discretio ist für das Verständnis von correctio äußerst zentral, da
es den Äbten und Mönchen bei der Umsetzung der entsprechenden Neuerungen
große Spielräume erlaubte. Die discretio als oberste Tugend steht somit für die Of-
2113 Zur discretio RB 2, 24; 34, 2; 37; 64, 17-20: »matris virtutum«; M. Puzicha, Kommentar zur Benedik-
tusregel, S. 549-550.
2114 S. Ceglar, Guillaume de Saint-Thierry, S. 334: »Nunc enim lex mandatorum Dei ea nobis auctoritate
indicitur cui contradicere nefas ducitur, contra eundem Apostolum, qui de Domino lesu Christo libere
praedicat, legem mandatorum decretis cum discretione et ratione datis evacuans.«