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Anzulewicz, Henryk; Breitenstein, Mirko [Hrsg.]; Melville, Gert [Hrsg.]
Die Wirkmacht klösterlichen Lebens: Modelle - Ordnungen - Kompetenzen - Konzepte — Klöster als Innovationslabore, Band 6: Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.54634#0019
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Die Hölle im Menschen ! 15

realer Ort gedacht, sondern metaphorisiert, enträumlicht, ja psychologisiert
wurde. In der Verknüpfung beider Voraussetzungen - schlechtes Gewissen und
metaphorischer Bezug auf die Hölle - konnte das Gewissen schließlich drittens
selbst zur Höllenstrafe werden, wie Schottelius unterstreicht. Im Überblick der
stattgefundenen Bedeutungsverschiebungen wird sich zeigen, dass trotz bis in
die Spätantike zurückreichender Traditionen ein wesentlicher Impuls für die
Verknüpfung von Höllenvorstellungen und Gewissenskonzeptionen der Vita
religiosa des ,langen' 12. Jahrhunderts zu verdanken ist.
Erste Voraussetzung: Der unerfüllbare Maßstab
Mönche und Nonnen waren ganz sicher nicht die Erfinder des schlechten Ge-
wissens. Aber sie waren diejenigen, die diesem Leiden an sich selbst wirkmäch-
tig Stimme verliehen. Wer sich dem Leben unter einer in jeder Hinsicht verbind-
lichen Regel verschrieben hatte, für die oder den musste die Diskrepanz zwischen
dem, was angestrebt wurde, und dem, was erreichbar war, stets aufs Neue das
eigene Unvermögen vor Augen führen. Das schlechte Gewissen als Ausdruck
eines Bewusstseins des eigenen Ungenügens, des Scheiterns an gesetzten und
akzeptierten Normen, des Versagens, des Falschtuns, ja der Bosheit begegnet in
Schriften von und für Religiöse bereits früh. Lange bevor die Moderne das
schlechte Gewissen kultivierte, war es in den Klöstern Europas bereits affektiv
erlitten und intellektuell erfasst worden. Das Lebensmodell Christi und seiner
Heiligen war gesetzt und wurde akzeptiert; zugleich aber war mit der Setzung
des Modells auch das Scheitern in jeden Versuch der Befolgung eingelegt: Der
Kontrast zwischen dem Heiligen in seiner Exzeptionalität und dem Menschen
unter den Bedingungen seiner Menschlichkeit war schlicht unaufhebbar. Zur
Nachfolge berufen zu sein, aber diesem Ruf nicht bis ins Letzte folgen zu kön-
nen - dieses prinzipielle Unvermögen musste allen Religiösen für sich selbst
klarwerden, wenn sie sich über sich selbst Rechenschaft ablegten.
Dieses Rechenschaft-Geben war seit den Aufbrüchen im klösterlichen Leben
im 12. Jahrhundert auf das Engste mit der Praxis verknüpft, das eigene Gewissen
zu erforschen. In sich selbst sollten Religiöse wie in einem Buch lesen und aus der
Lektüre den eigenen Heilsstand erkennen.3 Über sich sollten sie meditieren und
5 Vgl. hierzu meine Studie Im ,Buch des Gewissens' lesen. Selbsterkenntnis und Selbstvervoll-
kommnung im Religiosentum des hohen Mittelalters, in: Antonio Lucci/Thomas Skow-
ronek (Hgg.), Potential regieren. Zur Genealogie des möglichen Menschen, München 2018,
S. 37-48, und zum größeren Zusammenhang: Das ,Buch des Gewissens'. Zum Gebrauch einer
Metapher in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Revue d’Histoire Ecclesiastique 114 (2019),
S. 150-223.
 
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