Die Hölle im Menschen I 23
Eine einflussreiche Strömung, in der Entsprechendes gedacht wurde, stellten
die sogenannten Amalrikaner32, die Anhänger des Pariser Magisters Amalrich
von Bena (J 1206), dar. Wie der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach zu be-
richten wusste, gab es für sie weder Paradies noch Hölle: „vielmehr habe der-
jenige den Himmel in sich, der dieselbe Gotteserkenntnis habe wie sie selber;
wer aber eine Todsünde begangen hätte, der habe die Hölle in sich wie einen
faulen Zahn im Mund.“33 Caesarius’ Ordensbruder Garnier de Rochefort wies
den Amalrikanern in seiner Widerlegung ihrer Lehren die Aussage zu, dass die
Hölle nichts anderes sei als Unwissenheit - ganz so wie das Paradies in nichts
anderem bestehe als in der Erkenntnis der Wahrheit.34
Andere versuchten, die Hölle zumindest in Ansätzen von einem allzu groben
Realismus zu lösen oder doch wenigstens neben die körperlichen Qualen die
geistigen als in jedem Fall gleichwertig - und somit ebenso grausam - zu stellen.
Als entschiedener Verfechter diese Sichtweise begegnet Bischof Otto von Freising
(t 1158), der sich im eschatologischen Teil seiner Universalchronik auch der Hölle
zuwandte. Hierbei kam er auch auf den beim Propheten Jesaja (Is 66.24) erstmals
erwähnten Wurm zu sprechen, der nicht stirbt.35 Dieser Wurm wurde spätestens
seit dem Rekurs des Evangelisten Markus (Mc 9.47) auf diese Passage des Alten
Testaments immer auf die Hölle bezogen.36 Eine vergleichsweise späte, aberwirk-
mächtige Deutungsverschiebung innerhalb der exegetischen Tradition erfuhr der
„Wurm“ schließlich durch seine Verknüpfung mit dem Gewissen.37 Nunmehr
zum Gewissenswurm geworden und an den innerseelischen Bereich des Men-
schen gebunden, löste er sich zunehmend vom Kontext des ursprünglichen
cap. 16.3, S. 554 (Übersetzung: Hugo von Sankt Viktor, Über die Heiltümer des christlichen
Glaubens, übers, von Peter Knauer, Einleitung, Apparate, Bibliographie und Register von
Rainer Berndt [CV. Schriften 1], Münster 2010, S. 613).
32 Vgl. hierzu Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen
über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der
religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grund-
lagen der deutschen Mystik, Darmstadt 41977, S. 367f.
33 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum / Dialog über die Wunder, übers, und
komment. von Nikolaus NösGEs/Horst Schneider (Fontes Christian! 86.1-5), Turnhout
2009, lib. V.22, Bd. 3, S. 1034f.
34 Dicunt entm: Infernus nichil aliud est quam ignorantia, nec aliud estparadisus quam cognitio
veritatis [...], Garnerii de Rupeforti contra Amaurianos, cap. 3, ed. Paolo Lucentini (CC.
CM 232), Turnhout 2010, S. 16.
35 [...] egredientur et videbunt cadavera virorum qui praevaricati sunt in me vermis eorum non
morietur et ignis eorum non extinguetur et erunt usque ad satietatem visionis omni carni.,
Is 66.24; vgl. hierzu Dieter Lau, Vermis conscientiae. Zur Geschichte einer Metapher, in:
Andreas Patzer (Hg.), Apophoreta, Bonn 1975, S. 110-121.
36 Vgl. unten S. 28.
37 Lau, Vermis conscientiae (wie Anm. 35), S. 112-114.
Eine einflussreiche Strömung, in der Entsprechendes gedacht wurde, stellten
die sogenannten Amalrikaner32, die Anhänger des Pariser Magisters Amalrich
von Bena (J 1206), dar. Wie der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach zu be-
richten wusste, gab es für sie weder Paradies noch Hölle: „vielmehr habe der-
jenige den Himmel in sich, der dieselbe Gotteserkenntnis habe wie sie selber;
wer aber eine Todsünde begangen hätte, der habe die Hölle in sich wie einen
faulen Zahn im Mund.“33 Caesarius’ Ordensbruder Garnier de Rochefort wies
den Amalrikanern in seiner Widerlegung ihrer Lehren die Aussage zu, dass die
Hölle nichts anderes sei als Unwissenheit - ganz so wie das Paradies in nichts
anderem bestehe als in der Erkenntnis der Wahrheit.34
Andere versuchten, die Hölle zumindest in Ansätzen von einem allzu groben
Realismus zu lösen oder doch wenigstens neben die körperlichen Qualen die
geistigen als in jedem Fall gleichwertig - und somit ebenso grausam - zu stellen.
Als entschiedener Verfechter diese Sichtweise begegnet Bischof Otto von Freising
(t 1158), der sich im eschatologischen Teil seiner Universalchronik auch der Hölle
zuwandte. Hierbei kam er auch auf den beim Propheten Jesaja (Is 66.24) erstmals
erwähnten Wurm zu sprechen, der nicht stirbt.35 Dieser Wurm wurde spätestens
seit dem Rekurs des Evangelisten Markus (Mc 9.47) auf diese Passage des Alten
Testaments immer auf die Hölle bezogen.36 Eine vergleichsweise späte, aberwirk-
mächtige Deutungsverschiebung innerhalb der exegetischen Tradition erfuhr der
„Wurm“ schließlich durch seine Verknüpfung mit dem Gewissen.37 Nunmehr
zum Gewissenswurm geworden und an den innerseelischen Bereich des Men-
schen gebunden, löste er sich zunehmend vom Kontext des ursprünglichen
cap. 16.3, S. 554 (Übersetzung: Hugo von Sankt Viktor, Über die Heiltümer des christlichen
Glaubens, übers, von Peter Knauer, Einleitung, Apparate, Bibliographie und Register von
Rainer Berndt [CV. Schriften 1], Münster 2010, S. 613).
32 Vgl. hierzu Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen
über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der
religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grund-
lagen der deutschen Mystik, Darmstadt 41977, S. 367f.
33 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum / Dialog über die Wunder, übers, und
komment. von Nikolaus NösGEs/Horst Schneider (Fontes Christian! 86.1-5), Turnhout
2009, lib. V.22, Bd. 3, S. 1034f.
34 Dicunt entm: Infernus nichil aliud est quam ignorantia, nec aliud estparadisus quam cognitio
veritatis [...], Garnerii de Rupeforti contra Amaurianos, cap. 3, ed. Paolo Lucentini (CC.
CM 232), Turnhout 2010, S. 16.
35 [...] egredientur et videbunt cadavera virorum qui praevaricati sunt in me vermis eorum non
morietur et ignis eorum non extinguetur et erunt usque ad satietatem visionis omni carni.,
Is 66.24; vgl. hierzu Dieter Lau, Vermis conscientiae. Zur Geschichte einer Metapher, in:
Andreas Patzer (Hg.), Apophoreta, Bonn 1975, S. 110-121.
36 Vgl. unten S. 28.
37 Lau, Vermis conscientiae (wie Anm. 35), S. 112-114.