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Burkhardt, Julia; Thomas; Burkhardt, Julia [Hrsg.]
Von Bienen lernen: das "Bonum universale de apibus" des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf : Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar (Teilband 1): Analyse und Anhänge — Regensburg: Schnell + Steiner, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.56852#0155
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III. Die Rezeptionsgeschichte

Erzählstücke, die entweder aus der mündlichen Überlieferung in eine schriftliche
Form gebracht wurden oder aber von zeitgenössischen Autoren als Erzählgut präsen-
tiert wurden. Auch deshalb ist zu erklären, warum keine klare Bezugnahme auf den
Autor oder Gesamttext des „Bienenbuchs“ erfolgte.180
Anders als der Kompilator des Viaticum narrationum legte der Franziskaner Jo-
hannes Pauli in seinem Werk explizit offen, dass er eine Erzählung von Thomas von
Cantimpre übernommen hatte. Johannes Pauli wurde um 1450 im Elsass oder im
Breisgau geboren und trat in jungen Jahren dem Franziskanerkonvent von Villingen
bei. Um 1480 begann er als Prediger und Seelsorger zu wirken und war seit den
1490er Jahren in unterschiedlichen Funktionen in Villingen, Basel (1498 Vorsteher
der Franziskaner-Kustodie) und Bern (1503-1504 Guardian des Franziskanerklos-
ters) tätig.181 Von 1504 bis 1510 war Pauli zudem Guardian des Klosters in Straßburg,
wo er durch seine Mitarbeit an den Predigten Johannes Geilers von Kaysersberg so-
wie durch deren Herausgabe wohl auch wesentliche Anregungen für seine eigenen
Arbeiten erhielt.182
1522 veröffentlichte Pauli seine Predigtsammlung „Schimpf und Ernst“, die in
693 kurzen Erzählungen thematisch geordnet Texte mit moralisierender Aussage
(„Ernst“) sowie mit unterhaltendem Charakter („Schimpf) bietet. Ähnlich wie schon
Thomas von Cantimpre schrieb auch Johannes Pauli seiner Sammlung einen explizi-
ten Nutzcharakter als Predigthandbuch und als erbauliche Lektüre für Mönche und
Nonnen zu, und so erstaunt es nicht, dass sich im 548. Kapitel zum „Ernst“ eine
Geschichte findet, als in Libro apum geschriben stot.183 Sie entstammt BUA 11,36,4,
in dem von einem Mädchen berichtet wird, das in der Nähe von Mechelen lange mit
jungen Männern getanzt hatte. Zur Strafe wird sie von einem Dämon erfüllt, was ihre
Familie und das ganze Viertel in Aufruhr versetzt. Schließlich erlöst ein Knabe das
Mädchen, indem er bei dem Mädchen an der Außenseite des Bauches, in dem der
Dämon sitzt, mit einem Kreuzeszeichen entlangstreicht und so gewissermaßen hap-
tisch den Dämon austreibt.
Bemerkenswert an der Übernahme dieser Passage durch Johannes Pauli ist nicht
der Inhalt der Erzählung, deren Hauptthema Unschuld hier mit einem ausgesprochen
eindrücklichen Szenario vermittelt wird. Interessant ist vielmehr, dass Pauli auf den
lateinischen Titel des „Bienenbuchs“ hinwies, die Geschichte aber analog zu seiner
gesamten Sammlung auf Deutsch wiedergab. Die Vorlage Paulis lässt sich nicht näher
bestimmen, auch weil nicht zu rekonstruieren ist, wann er diese Erzählung in seine

180 S. dazu auch Dinzelbacher, Bericht, Verschriftlichung und Reoralisierung sowie Kapitel II.4.
181 Zum Leben Paulis und der Entstehung von „Schimpf und Ernst“ s. Schäfer, Art. „Pauli, Johannes“
sowie Pearsall, Johannes Pauli, besonders S. 1-14.
182 Classen, Deutsche Predigtliteratur, S. 213-214.
183 Johannes Pauli, Schimpf und Ernst, hg. von Österley, Nr. 548, S. 313. Zur Intention Paulis bei der
Abfassung von „Schimpf und Ernst“ s. Classen, Deutsche Predigtliteratur, S. 215-216.
 
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