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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte
Ablösung des Menschen von jedem Boden. Er wird Erdbewohner ohne Heimat. Er
verliert die Kontinuität der Tradition. Der Geist reduziert sich auf Lernbarkeiten und
Abrichtung zu brauchbaren Funktionen.
130 | Diese Zeit der Verwandlung ist zunächst ruinös. Wir leben heute in der Unmög-
lichkeit, eine rechte Lebensform zu finden. Aus der Welt kommt wenig Wahres und Ver-
läßliches mehr entgegen, das den Einzelnen in seinem Selbstbewußtsein tragen könnte.
Des Einzelnen bemächtigt sich daher entweder eine tiefe Unzufriedenheit mit sich
selbst, oder er gibt sich selbstvergessen preis, um Funktion in der Maschine zu wer-
den, gedankenlos seinem vitalen Dasein, unpersönlich geworden, sich zu überlassen,
den Horizont von Vergangenheit und Zukunft zu verlieren und einzuschrumpfen auf
eine enge Gegenwart, sich selber untreu, austauschbar und brauchbar für alle verlang-
ten Zwecke, gebannt durch unbefragte, ungeprüfte, unbewegte, undialektische, leicht
wechselnde Scheingewißheiten.
Wer aber die Unzufriedenheit als Unruhe in sich bewahrt, wird sich selber ständig
falsch. Er muß in Masken leben, und die Masken wechseln nach der Situation und nach
den Menschen, mit denen er umgeht. Er spricht durchweg im »als ob«, und gewinnt
sich selber nicht, weil er in allen Masken am Ende nicht weiß, wer er eigentlich ist.
Wenn kein Boden trägt, - wenn kein Widerhall ist für das eigentliche Selbstsein, -
wenn keine Verehrung mehr stattfindet, weil Masken und Hülsen keine Verehrung be-
wirken, sondern nur fetischistische Vergötterung ermöglichen, - wenn Menschen
mich nicht zum Aufschwung bringen durch die verborgen aus ihrem Dasein spre-
chende Forderung ihres Selbstseins, - dann wird die Unruhe zur Verzweiflung, die von
Kierkegaard und Nietzsche prophetisch durchlebt und zur hellsten Aussprache in ih-
rer Interpretation des Zeitalters gekommen ist.53
Mit all dem ist ein Abreißen der Geschichte erfolgt, eine Zerstörung oder ein Ver-
sinkenlassen des Vergangenen in einem Maße, daß alle Analogien und Vergleiche aus
den historischen Jahrtausenden fehlen. Wenn nur der erste Anfang der Entstehung
des Feueranzündens und des Werdens der Werkzeuge vergleichbar ist, so scheint die
Entdeckung der Atomenergie in der Tat wie eine Analogie zur Entdeckung des Feuers:
eine ungeheure Möglichkeit und eine ungeheure Gefahr. Aber von jenen Anfangszei-
131 ten wissen wir nichts. Wie damals fängt die Mensch|heit etwas von vorn an, - oder sie
wird sich unter gewaltigen Zerstörungen ins Grab der Bewußtlosigkeit legen.
Wegen der Größe der Frage, was damit aus dem Menschen werden kann, ist die
Technik heute vielleicht das Hauptthema für die Auffassung unserer Lage. Man kann
den Einbruch der modernen Technik und ihrer Folgen für schlechthin alle Lebensfra-
gen gar nicht überschätzen. Man hält in Blindheit über diesen Tatbestand bei gewohn-
tem historischen Denken eine falsche Kontinuität mit dem Vergangenen fest, macht
schiefe Vergleiche unseres Daseins mit dem Gewesenen. Bei aller Heranziehung histo-
rischer Parallelen zu unserem Zeitalter muß immer die Frage bleiben, ob der radikale
Unterschied, der die Folge unserer Technik ist, berücksichtigt wurde. Dann kann im
Vom Ursprung und Ziel der Geschichte
Ablösung des Menschen von jedem Boden. Er wird Erdbewohner ohne Heimat. Er
verliert die Kontinuität der Tradition. Der Geist reduziert sich auf Lernbarkeiten und
Abrichtung zu brauchbaren Funktionen.
130 | Diese Zeit der Verwandlung ist zunächst ruinös. Wir leben heute in der Unmög-
lichkeit, eine rechte Lebensform zu finden. Aus der Welt kommt wenig Wahres und Ver-
läßliches mehr entgegen, das den Einzelnen in seinem Selbstbewußtsein tragen könnte.
Des Einzelnen bemächtigt sich daher entweder eine tiefe Unzufriedenheit mit sich
selbst, oder er gibt sich selbstvergessen preis, um Funktion in der Maschine zu wer-
den, gedankenlos seinem vitalen Dasein, unpersönlich geworden, sich zu überlassen,
den Horizont von Vergangenheit und Zukunft zu verlieren und einzuschrumpfen auf
eine enge Gegenwart, sich selber untreu, austauschbar und brauchbar für alle verlang-
ten Zwecke, gebannt durch unbefragte, ungeprüfte, unbewegte, undialektische, leicht
wechselnde Scheingewißheiten.
Wer aber die Unzufriedenheit als Unruhe in sich bewahrt, wird sich selber ständig
falsch. Er muß in Masken leben, und die Masken wechseln nach der Situation und nach
den Menschen, mit denen er umgeht. Er spricht durchweg im »als ob«, und gewinnt
sich selber nicht, weil er in allen Masken am Ende nicht weiß, wer er eigentlich ist.
Wenn kein Boden trägt, - wenn kein Widerhall ist für das eigentliche Selbstsein, -
wenn keine Verehrung mehr stattfindet, weil Masken und Hülsen keine Verehrung be-
wirken, sondern nur fetischistische Vergötterung ermöglichen, - wenn Menschen
mich nicht zum Aufschwung bringen durch die verborgen aus ihrem Dasein spre-
chende Forderung ihres Selbstseins, - dann wird die Unruhe zur Verzweiflung, die von
Kierkegaard und Nietzsche prophetisch durchlebt und zur hellsten Aussprache in ih-
rer Interpretation des Zeitalters gekommen ist.53
Mit all dem ist ein Abreißen der Geschichte erfolgt, eine Zerstörung oder ein Ver-
sinkenlassen des Vergangenen in einem Maße, daß alle Analogien und Vergleiche aus
den historischen Jahrtausenden fehlen. Wenn nur der erste Anfang der Entstehung
des Feueranzündens und des Werdens der Werkzeuge vergleichbar ist, so scheint die
Entdeckung der Atomenergie in der Tat wie eine Analogie zur Entdeckung des Feuers:
eine ungeheure Möglichkeit und eine ungeheure Gefahr. Aber von jenen Anfangszei-
131 ten wissen wir nichts. Wie damals fängt die Mensch|heit etwas von vorn an, - oder sie
wird sich unter gewaltigen Zerstörungen ins Grab der Bewußtlosigkeit legen.
Wegen der Größe der Frage, was damit aus dem Menschen werden kann, ist die
Technik heute vielleicht das Hauptthema für die Auffassung unserer Lage. Man kann
den Einbruch der modernen Technik und ihrer Folgen für schlechthin alle Lebensfra-
gen gar nicht überschätzen. Man hält in Blindheit über diesen Tatbestand bei gewohn-
tem historischen Denken eine falsche Kontinuität mit dem Vergangenen fest, macht
schiefe Vergleiche unseres Daseins mit dem Gewesenen. Bei aller Heranziehung histo-
rischer Parallelen zu unserem Zeitalter muß immer die Frage bleiben, ob der radikale
Unterschied, der die Folge unserer Technik ist, berücksichtigt wurde. Dann kann im