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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0216
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

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fendes Wachsen und Vertiefen des Bewußtseins stattfindet. Zu jeder Position gab es
auch die Gegenposition. Es blieb im Ganzen alles offen. Das Unfeste ist bewußt gewor-
den. Eine unerhörte Unruhe bemächtigte sich des Menschen. Die Welt schien für das
Bewußtsein immer verwirrter zu werden.
Am Ende erfolgte der Kollaps. Große politische und geistige Einheitsbildungen,
dogmatische Gestaltungen beherrschten seit etwa 200 v. Chr. das Feld. Die Achsen-
zeit endete mit großen Staatsbildungen, welche die Einheit gewaltsam verwirklichten
(Chinesisches Einheitsreich des Tsin-Shi-Huang-Ti, Maurya-Dynastie in Indien, römi-
sches Imperium). Diese großen Umwälzungen von der Vielheit der Staatsgebilde zu
Universalreichen - Weltreichen im Sinne der Umfassung des jeweils bekannten gan-
zen Weltgeschehens in den drei sich damals gegenseitig kaum kennenden Bereichen
sind gleichzeitig. Die Verwandlung ist überall außerordentlich: Der freie Kampf der
Geister scheint still zu stehen. Ein Bewußtseinsverlust ist die Folge. Nur wenige pas-
sende Gedankenmöglichkeiten und geistige Gestalten aus der | vergangenen Achsen-
zeit werden ergriffen, um den neuen Staatsautoritäten geistige Gemeinschaft, Glanz
und Konvention zu geben. Der imperiale Gedanke verwirklicht sich in religiös begrün-
deten Formen. Es entstehen geistig stabile, langwährende Zeiten der großen Reiche
mit Nivellierung zu Massenkultur und mit sublimer, aber unfreier Geistigkeit konser-
vativer Aristokratien. Es ist, als ob durch Jahrhunderte ein Schlaf der Welt begänne,
mit absoluter Autorität der großen Systeme und Einsargungen.
Die Universalreiche sind Großreiche. Großreiche sind für die überwiegende Mehr-
zahl der Völker Fremdherrschaften, im Unterschied von den griechischen Poleis und
begrenzten, sich selbst regierenden Stammes- und Volksgemeinschaften. Deren Eigen-
herrschaft beruht auf der aktiven Teilnahme am politischen Denken und Handeln in
der aristokratischen Form der Demokratie, wie sie in Athen und Rom in verschiedener
Gestalt da gewesen ist. Sie verschwindet mit dem Übergang zur gleichmachenden
Scheindemokratie von Großreichen (so weitgehend schon in Athen mit dem Tode des
Perikies, völlig in Rom mit dem Übergang zum Caesarismus). Wo schließlich die Teil-
nahme am politischen Handeln fehlt zugunsten bloßen Gehorsams und Untertanen-
schaft, da wird für das Bewußtsein des Einzelnen alle Herrschaft an sich zur Fremd-
herrschaft, wenigstens für den größten Teil der Reichsbevölkerung.
Mit der Verwandlung der Zustände in Großreiche geht daher zugleich eine tiefe
Verwandlung des Menschen einher. Politische Ohnmacht ändert Bewußtsein und Le-
ben. Die despotische Gewalt, die vom Großreich unabtrennbar scheint, wirft den Ein-
zelnen auf sich selbst zurück, isoliert ihn, nivelliert ihn. Wo keine wirkliche Mitver-
antwortung und kein freier Einsatz für das Ganze möglich ist, da sind Alle Sklaven.
Dies Sklaventum wird verschleiert durch Redewendungen und Scheinveranstaltun-
gen aus der freien Vergangenheit. Kaum ist soviel von griechischer Freiheit geredet,
ist sie immer wieder von den Siegern garantiert worden, als wie sie endgiltig zugun-
sten imperialer Regimes zerstört war. Was in Menschen geschieht, die in Gemein-

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