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Jaspers, Karl; Salamun, Kurt [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 10): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte — Basel: Schwabe Verlag, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.51322#0231
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Vom Ursprung und Ziel der Geschichte

wann, innerhalb derer der Austrag von Streit durch Gewalt zum Verbrechen und daher
geahndet wurde. In solchen großen Gemeinschaften herrschte schon, wenn auch nur
für begrenzte Zeiten und ständig bedroht, Verläßlichkeit und die Gesinnung, die die
Rechtsordnung trägt. Es ist keine grundsätzliche Grenze gesteckt für das Bemühen um
die Erweiterung solcher Gemeinschaft zur Gemeinschaft aller Menschen.
Daher war in der Geschichte so unverlierbar wie der Drang zur Gewalt auch die Be-
reitschaft zum Verzicht und zum Kompromiß, zum gegenseitigen Opfer, zur Selbstbe-
schränkung der Macht nicht nur durch Erwägung des Vorteils, sondern auch durch
Anerkennung von Recht. Die größte Möglichkeit solcher Haltung war vielleicht bei
aristokratischen, maßvollen, innerlich gebildeten Menschen (wie Solon), die gerin-
gere beim Durchschnittsmenschen, der immer Neigung hat, sich selbst allein recht,
dem anderen nur unrecht zu geben, gar keine bei den Gewaltsamen, die sich überhaupt
nicht vertragen, sondern drein schlagen wollen.
Angesichts dieser Verschiedenheit der Menschen wird der Zweifel Recht behalten:
In der Welteinheit - wie sie auch sei, ob Weltordnung oder Weltimperium - wird es
265 keine dauernde | Ruhe geben, so wenig wie innerhalb der bisherigen Staatsbildungen.
Ein Jubel über die errungene pax aeterna wird trügerisch sein. Die umgestaltenden
Kräfte werden neue Formen annehmen.
In seiner Endlichkeit bleiben dem Menschen Grundtriebe und Widerstände, die es
unwahrscheinlich machen, einen Zustand in der Welt zu erwarten, in dem die Frei-
heit aller so ineinander schlägt, daß sie zur absoluten Macht würde, alles, was die Frei-
heit bedroht, das endliche Machtstreben, die endlichen Interessen, den Eigenwillen
endgiltig zu bändigen. Man muß vielmehr darauf rechnen, daß die wilden Leiden-
schaften sich in neuen Formen wiederherstellen.
Vor allem aber besteht der Wesensunterschied zwischen dem, was der Einzelne je-
derzeit durch sich, und dem, was die Gemeinschaft politischer Ordnung im Gang der
Geschichte werden kann. Der Einzelne kann Existenz werden, die in der Erscheinung
der Zeit ihren ewigen Sinn zu finden vermag, die Menschengruppe und die Mensch-
heit aber nur eine Ordnung, die ein gemeinschaftliches Werk der Geschichte durch
Generationen ist und Raum schafft für die Möglichkeiten und Beschränkungen aller
Einzelnen. Ordnung aber besteht nur durch den Geist, mit dem die Einzelnen sie be-
seelen und von dem sie in der Folge der Nachwachsenden geprägt werden. Alle Insti-
tutionen sind angewiesen auf Menschen, die Einzelne sind. Der Einzelne ist hier zu-
gleich entscheidend - sofern nur Viele oder die Mehrheit oder die meisten Einzelnen
die Ordnung tragen - aber als Einzelner ist er auch ohnmächtig.
Die ungemeine Verletzlichkeit aller Ordnungen mit dem sie tragenden Geiste ist
Anlaß genug, mit Ungewißheit in die Zukunft zu blicken. Illusionen und Utopien sind
zwar starke Faktoren der Geschichte, aber nicht solche, die Ordnung schaffen für Frei-
heit und Humanität. Vielmehr ist es beim Erdenken der Möglichkeit oder Unmöglich-
keit einer Weltordnung für die Freiheit selbst entscheidend, daß wir kein Zukunftsbild,
 
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