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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0186
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Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung

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Der Kampf in diesen Chiffern ist verborgen immer da. Oft fehlt ihm das Bewußt-
sein seiner Bedeutung, der Herkunft des erregenden Anspruchs. Dann bleibt das Wis-
sen aus von der Gefahr für den Glauben selber durch die praktischen Folgen des jeweils
bestimmten Chifferndenkens.
Die Kämpfe der Theologen um die wahre Glaubenserkenntnis sind gemeint und
können aussehen, als ob hier in fortschreitender Einsicht, analog zur wissenschaft-
lichen Forschung, eine einzige zum Grunde liegende Tatsache (»einen anderen Grund
kann niemand legen, als der von Anfang gelegt ist«)184 besser im Verstehen des Glau-
bens erkannt würde. Jedoch kann von Fortschritt keine Rede sein, sondern nur von
unaufhörlichen Kämpfen der Glaubenserkenntnis, in denen verschiedene, von außen
nicht übersehbare Glaubensmächte sich gegenüberstehen. Diese Mächte werden sich
selbst in diesem Glaubensverstehen klarer (wenn es nicht bloße intellektuelle Zänke-
rei ist). Sie stellen ihre Symbole und Bekenntnisse wie Fahnen auf.
Je nach Situation geraten sie in den äußersten Kampf auf Leben und Tod, wenn sie
sich nebeneinander im Dasein nicht dulden wollen. Oder sie suchen ihr Gemeinsa-
mes im Grunde, grenzen sich freundlich ab in Vordergründen und wissen sich einig
im Glauben selbst. Zwischen diesen beiden Extremen liegen viele Möglichkeiten.
6. Beschwören in Chiffern und Predigen
Philosophische Beschwörung der Transzendenz und Predigen sind auf das Gleiche be-
zogen. Der Unterschied ist: jene Beschwörung ist freie kritische Bewegung, dieses Pre-
digen ist gebundene Verkündigung der Offenbarung. Dort ist Vollmacht allein durch
die eigene Verantwortung jedes einzelnen Menschen, der er selbst sein kann; hier ist
Vollmacht durch Stiftung der Kirche und übertragenes Amt.
Der philosophisch Glaubende kann nicht predigen. Denn er müßte verkündigen
und hat nichts zu verkündigen. Daher ist die Predigt in der Kirche ihm mit Recht ver-
wehrt. Der Ordinierte ist dazu im Amt, ausgestattet mit kirchlicher Vollmacht zur
Predigt.
Erst wenn die Verkündigung in der Kirche den Charakter der Verkündigung von
Offenbarungsrealität, von Dogma und Bekenntnis abstreifen | oder im Sinn verwan-
deln würde (was heute bei allen Kirchen utopisch aussieht) und wenn sie mit der Be-
schwörung der Transzendenz in der Sprache der Chiffern den Ernst der Existenz des
Menschen aus der Tiefe nicht schwächen, sondern steigern würde, dann würden das
philosophische Beschwören der Transzendenz und das auf Vollmacht sich berufende
Predigen nicht mehr auseinanderfallen. Der Widerstreit zwischen Theologie und Phi-
losophie bestände nicht mehr.
Keine Voraussage ist möglich, ob die Kirchen von innen heraus diese Wandlung
hervorbringen werden. Nur dadurch würden sie ineins mit den wahrhaften und ver-
borgenen Kräften in den modernen Menschenmassen, würden sie erst mit der Härte
der Sprache der Realität, mit der Kraft der Liebe und mit der Führung durch die Ver-

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