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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0272
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung 171
Der für die Wahrheit ihres Denkens entscheidende Punkt liegt in Wissenschaften
und Philosophie anders. In den Wissenschaften liegt er ganz und gar in der gegen-
ständlichen Sache, im Gedachten, im | Urteil. In der Philosophie liegt er in der Wirk- 100
lichkeit des inneren und äußeren Handelns, in der Verfassung der Seele, im Entschluß.
Die Verifikation ist in den Wissenschaften auf gegenständliche Forschung, auf Un-
tersuchung, Probe angewiesen, in der Philosophie auf die Wirklichkeit der Existenz.
Was in der Philosophie ihre Wirklichkeit ist, für das gibt es die Vorarbeiten in der
philosophischen Denkarbeit: in der philosophischen Logik, im Umgang mit den gro-
ßen Philosophen, in den philosophischen Gebilden des Gedankens als einer Sprache,
die, recht gehört, den philosophischen Aufschwung ermöglicht.
(3) Wann Wissenschaft und wann Philosophie sich gegen die Offenbarungserkenntnis der
Theologie wenden: Als die Philosophie zu neuer Selbstbehauptung kam, differenzierte
sich die Gegnerschaft gegen den Offenbarungsglauben.
Wenn der Offenbarungsglaube in seiner Theologie Behauptungen aufstellt über
empirisch allgemeingültig feststellbare Tatsachen, da ist er immer im Unrecht gegen
die methodisch zwingende Wissenschaft. Wo diese Wissenschaft widerspricht und
der wissenschaftlich denkende Mensch bei Aneignung der Methode ihre Erkenntnis
einsehen muß, da bleibt nur: der Wissenschaft zu folgen oder das sacrificium intellec-
tus zu vollziehen. Während das sacrificium für eine vernünftige Existenz unerträglich
ist, ist das Anerkennen wissenschaftlicher Erkenntnis keineswegs das Ende des Offen-
barungsglaubens. Denn dieser selbst ist von wissenschaftlicher Erkenntnis nicht er-
reichbar, bleibt aber auch von ihr unberührt. Er ist weder erkennbar noch bekämpf-
bar, wenn er verzichtet auf die Verkehrungen, die ihm im Selbstmißverständnis ständig
unterlaufen sind. Wenn Wissen der Wissenschaft gegen Glaubensaussagen steht, so
hat der Glaube verloren. Dann aber hatte er vorher schon sich in eine Erscheinung des
Denkens eingelassen, die nicht mehr er selbst ist.
Anders aber, wenn Philosophie sich gegen den sie verneinenden Offenbarungs-
glauben wehrt. Da steht nicht Wissen gegen Glaube, sondern Glaube gegen Glaube.
Dann aber bedeutet philosophische Gegnerschaft nicht Verneinung, sondern Ver-
weigerung der Aneignung und Gefolgschaft. Nur dogmatische Theologie und dog-
matische Philosophie, beide unheilvoll pochend auf die unwahre Absolutheit ihres
vermeintlich gewußten Grundes, schließen sich aus. Offenbarungsglaube und Ver-
nunftglaube als solche stehen polar zueinander, sind betroffen voneinander, verste-
hen sich zwar nicht restlos, aber hören | nicht auf im Versuch, sich zu verstehen. Was 101
der je einzelne Mensch in sich für sich selbst verwirft, das kann er im Anderen als des-
sen Glauben doch anerkennen.
(4) Die verbreiteten falschen Vorstellungen von Philosophie heute: Die Reinigung des er-
kennenden Bewußtseins ist unter den Bedingungen der Wissenschaft und aus dem Ur-
sprung der Philosophie grundsätzlich vollzogen. Aber sie ist noch nicht wirklich in
der Breite der modernen Bildung, nicht in allen Forschern, nicht in allen Dozenten
 
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