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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0541
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

Was Jahrtausende lang geschehen ist im Denken, was an Chiffern aufgetreten ist,
das können wir aneignen. Der Kampf der in der geschichtlichen Menschheit wirk-
samen Mächte setzt sich fort. Die Toten sind gegenwärtig.
438 | Wenn bei dieser Aneignung die Wahrhaftigkeit fordert, in der Wiederholung die
Verwandlung zu vollziehen, in der Aneignung wir selbst zu werden, dann ist die Vor-
aussetzung das methodologische Bewußtsein.

2. Die Befreiung als ein Faktor im Unheil unserer Zeit
Sind der Verzicht auf die Leibhaftigkeit der Transzendenz und die methodisch reflek-
tierende Distanzierung von der Folge, daß wir nicht mehr glaubend existieren kön-
nen? Sind wir verloren, weil wir nicht mehr leibhaftig realisierend »glauben«? Führt
diese Befreiung nicht, statt zur Freiheit, vielmehr in das Nichts? Ist Ratlosigkeit die
Folge und mit ihr der Drang zur blinden Unterwerfung, worunter auch immer?
(a) Der Verzicht auf die Leibhaftigkeit der Transzendenz kann zur Folge haben: auch
die Chiffern werden nicht mehr im Ernst als Sprache der Transzendenz gehört. Sie er-
leuchten nicht mehr den Raum der Existenz. Die Befreiung von der sinnlich beängs-
tigenden oder sinnlich sichernden Leibhaftigkeit läßt die Freiheit nicht mehr den Be-
zug auf Transzendenz bewahren. Mit der Leibhaftigkeit geht auch die Wirklichkeit der
Transzendenz verloren. Die Entzauberung der erkennbaren Welt hat die Tendenz, die
Welt überhaupt in Wißbarkeit und Machbarkeit zu verwandeln.
(b) Die Forderung der universalen methodologischen Klarheit kann zur Folge ha-
ben: Das uns vom eigenen, damit durchsichtig werdenden Denken distanzierende me-
thodologische Bewußtsein hebt auch die Selbstverständlichkeit gehaltvollen Denkens
auf. Es löst uns aus dem Dabeisein heraus und läßt ein Leben im Reden über die Dinge
und über das Denken und über die Verfahren, im ständigen Beurteilen übrig. Die re-
flektierende Distanz mit ihrer Wahrhaftigkeit bringt uns in einen unüberwindbaren
Schwindelzustand. Durch die Reflexion wird unsere Substanz verzehrt. Die Befreiung
von den Fesseln der Gedanken hebt die Freiheit gehaltvollen Denkens überhaupt auf.
Das methodologische Bewußtsein entfremdet alles Denken und Handeln sich selber.
(c) Die geistige Situation und die Daseinssituation scheinen beide heute eine Be-
freiung zu bedeuten, die zugleich unumgänglich geworden ist. Die durch Wissenschaf-
439 ten entstandene Wissenssituation ist | unentrinnbar. Die durch Wissenschaft und
Technik sich heute mit unheimlich wachsender Schnelligkeit weiter verwandelnde
Daseinssituation ist ebenso unentrinnbar. Die geistigen Folgen unserer modernen Be-
freiung und die Daseinsfolgen des technischen Zeitalters treffen zusammen.
Aber die Folge ist einerseits ein Machtgefühl bisher nicht gekannten Ausmaßes,
andrerseits das Gefühl einer so noch nie bedrückenden Ohnmacht.
Zunächst das moderne Machtgefühl: Mancher denkt: wir sind auf dem Wege, der
Natur Herr zu werden. Was wir noch nicht wissen, bald werden wir es wissen. Was wir
 
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