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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0598
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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sucht. Das | kirchliche Denken sucht die Grundantinomien zu systematisieren, in eine 510
überzeugende Harmonie zu bringen. Es will das Übergreifende in der Menschenwelt
als die eigene kirchliche Verleiblichung begreifen und als Autorität stabilisieren.
Da das neutestamentliche Christentum mit der Welt nichts zu tun hatte, konnte es
in der Welt mit der »Kultur« sich nicht einrichten ohne ständige Widersprüche, Um-
kehrungen, ohne die im Grunde dieser Situation erzwungene Heuchelei. Nur in Gestal-
ten der Unwahrhaftigkeit konnte diese Religion sich weltlich behaupten. In dieser viel-
leicht nirgends in der Welt zu solchem Umfang gewachsenen Unwahrhaftigkeit liegt
einer der Gründe des Abscheus der Asiaten gegenüber dem christlichen Abendland.
Aus den Antinomien im Grunde der biblischen Religion folgt zugleich die Größe
und das Verderben, folgt das Schöpferische des aufs höchste gespannten, sich selber
nie genügenden Wahrheitswillens, der noch die Lüge verstehen und durchhellt gleich-
sam annehmen möchte, und die abgründigste Verlogenheit. Es ist wie nirgends in der
Welt der Kampf entbrannt um die Wahrheit aus dem wegen der ungeheuerlichen Un-
wahrheit in der Erscheinung nur gesteigerten, keine Ruhe lassenden, unerbittlichen
Wahrheitsanspruch.
Wie ist von der Heuchelei frei zu werden? Wie kann ohne sie die eigentliche Wahr-
heit aus der Tiefe sprechen? Zur biblischen Religion gehört von Anfang die Revolution
und Reformation. Von den alten Propheten an geht die Auflehnung. Die biblischen
Religionen sind einzigartig durch die Spannung: Der gesteigerte leidenschaftliche
Wahrheitsanspruch, von Gott selbst ausgehend, bekämpft die im eigenen Bereich stän-
dig wuchernde Unwahrhaftigkeit. In den Auflehnungen steckt die Wahrheit. Aber so-
gleich tritt in ihnen selber wieder die Unstimmigkeit in neuer Gestalt zutage.
Zur Geschichte der biblischen Religion gehört daher die immer wieder erfolgende
Rückkehr in den Ursprung - bei den Propheten, bei Jesus, später durch die immer wie-
der notwendige Gründung neuer Mönchsorden. Ein Teil der Spaltungen erfolgte durch
solche revolutionäre Umkehr. Wenn es dem Bestehenden nicht gelang, die Bewegung
auf irgendeine Weise in sich selber aufzunehmen, wurde es vernichtet, oder ver-
schwand, oder es bildeten sich in der Abspaltung erst Sekten, dann neue Kirchen. Das
letzte große Ereignis dieser Art war die protestantische Reformation.
(c) Der Protestantismus ist der letzte große Durchbruchsversuch | aus der Unwahr- 511
heit zum Ursprung. Er führte, ohne anfängliche Absicht, zur Spaltung der abendlän-
dischen Kirche, und dann zur weiteren Aufspaltung der abgespaltenen Protestanten.
Heute noch gibt der ökumenische Rat der protestantischen Konfessionen615 dies cha-
rakteristische Bild: alle sind einig im Nein zu Rom, aber untereinander stehen sie sel-
ber in dem gleichen Sinn dieses Nein. Sie alle schließen sich gegenseitig aus in der
Glaubensmeinung. Dies wird kaum verschleiert durch das äußere Faktum des Zu-
sammensitzens und Aneinandervorbeiredens (vgl. Martin Werner, Theologische Um-
schau 1961).616 Martin Werner617 führt dies Unheil zurück auf den Glauben an den
Gottmenschen Christus (der an die Stelle von Jesus trat).618 Von katholischer Seite
 
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