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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
hört man, das Prinzip des Protestantismus müsse am Ende zur Leugnung der Mensch-
werdung Gottes in Jesus-Christus führen. Das scheint mir richtig. Daher denke ich,
es sei eben dies im Protestantismus noch fortdauernde katholische Glaubensprinzip,
das ihn überall noch im Katholizismus gefangenhalte. Wie begründet sich solche
Beurteilung?
Der Gottmensch ist in der heiligen Kirche als dem corpus mysticum Christi gegen-
wärtig. Es gilt in vollem Ernste das von mir mehrfach zitierte, erleuchtende Wort Au-
gustins: Ich würde dem Evangelium keinen Glauben schenken, wenn mich nicht die
Autorität der gegenwärtigen katholischen Kirche dazu bewegte.619 Wenn diese Gegen-
wärtigkeit in den protestantischen Kirchen, die das Sakrament der Priesterweihe ab-
geschafft haben, aufhört, damit die Leibhaftigkeit faktisch verschwindet, nur noch in
der Vergangenheit liegt und nur als Wort bleibt, dann hat diese Gottmenschheit ih-
ren Charakter völlig verändert. Statt sie täglich in der Kirche und der von ihr ausge-
henden Erscheinung ihrer Sichtbarkeiten zu erfahren, ist sie zu einem einst Gesche-
henen geworden. Kierkegaard setzte an die Stelle der Gleichzeitigkeit der leibhaftigen
Kirche die Gleichzeitigkeit des einst Geschehenen (Gott wurde Mensch, war da am
Kreuze und als Auferstandener).620 Das ist, wenn die Leibhaftigkeit des Geglaubten ge-
meint wird, gewaltsam und künstlich. Die Kirche ist für den katholischen Glauben zu-
erst gegenwärtig, und zwar als Körper Christi. Ihre Leibhaftigkeit erst bezeugt die Ver-
gangenheit, in der Gott Mensch wurde und diese Kirche mit ihren sakramentalen
Kräften, Befugnissen, ihrem Schlüssel zum Himmelreich stiftete. Die Kirche mit ihrer
Heiligkeit ist leibhaftig. Der Protestantismus hat nur das Wort, die Vergangenheit der
512 Offenbarung, das, am Katholischen gemessen, arme verkümmerte | Wesen. Die Ent-
heiligung der Kirche (Wegfall des Sakraments der Priesterweihe) muß schließlich die
Gottmenschheit Christi selber unglaubwürdig machen.
Aber die Verkümmerung des Protestantismus konnte nur durch Selbstmißverständ-
nis seines revolutionären Ernstes geschehen. Er hielt einen ihm innerlich disparaten
Katholizismus fest und ließ die Entfaltung seines Durchbruchsprinzips nicht zu. Der
Ernst des Protestantismus muß sich vollenden, oder er versinkt in die Nichtigkeit der
unredlichen Mimikry des von ihm doch nicht zu erreichenden Katholischen.
Es kann aussehen, als ob die erhofften Verwandlungen nichts weiter als Verzichte
wären. Die kritischen Negationen scheinen die Substanz des Glaubens selber zu tref-
fen: Jesus ohne Christus? Glaube ohne Bekenntnis? Kultus ohne magisch-göttliche
Einwirkung? Meditation ohne ein auf endliches Glücksverlangen gerichtetes Gebet?
Umgang durch Chiffern mit der Transzendenz ohne sie selbst zu haben? Ist nicht al-
les ein Preisgeben, ohne etwas zu gewinnen?
Was aber ist die Substanz? Sie ist nichts von dem, was man »haben« kann, was ei-
nem von einer Instanz in der Welt dargeboten würde, in einer Kirche inkarniert wäre.
Zu ihr ist zu gelangen durch Verwandlung, in jedem Einzelnen durch Umkehr. Dieser
Ernst ist denkend zum Bewußtsein zu bringen, aber nicht durch Denken schon zu ver-
Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
hört man, das Prinzip des Protestantismus müsse am Ende zur Leugnung der Mensch-
werdung Gottes in Jesus-Christus führen. Das scheint mir richtig. Daher denke ich,
es sei eben dies im Protestantismus noch fortdauernde katholische Glaubensprinzip,
das ihn überall noch im Katholizismus gefangenhalte. Wie begründet sich solche
Beurteilung?
Der Gottmensch ist in der heiligen Kirche als dem corpus mysticum Christi gegen-
wärtig. Es gilt in vollem Ernste das von mir mehrfach zitierte, erleuchtende Wort Au-
gustins: Ich würde dem Evangelium keinen Glauben schenken, wenn mich nicht die
Autorität der gegenwärtigen katholischen Kirche dazu bewegte.619 Wenn diese Gegen-
wärtigkeit in den protestantischen Kirchen, die das Sakrament der Priesterweihe ab-
geschafft haben, aufhört, damit die Leibhaftigkeit faktisch verschwindet, nur noch in
der Vergangenheit liegt und nur als Wort bleibt, dann hat diese Gottmenschheit ih-
ren Charakter völlig verändert. Statt sie täglich in der Kirche und der von ihr ausge-
henden Erscheinung ihrer Sichtbarkeiten zu erfahren, ist sie zu einem einst Gesche-
henen geworden. Kierkegaard setzte an die Stelle der Gleichzeitigkeit der leibhaftigen
Kirche die Gleichzeitigkeit des einst Geschehenen (Gott wurde Mensch, war da am
Kreuze und als Auferstandener).620 Das ist, wenn die Leibhaftigkeit des Geglaubten ge-
meint wird, gewaltsam und künstlich. Die Kirche ist für den katholischen Glauben zu-
erst gegenwärtig, und zwar als Körper Christi. Ihre Leibhaftigkeit erst bezeugt die Ver-
gangenheit, in der Gott Mensch wurde und diese Kirche mit ihren sakramentalen
Kräften, Befugnissen, ihrem Schlüssel zum Himmelreich stiftete. Die Kirche mit ihrer
Heiligkeit ist leibhaftig. Der Protestantismus hat nur das Wort, die Vergangenheit der
512 Offenbarung, das, am Katholischen gemessen, arme verkümmerte | Wesen. Die Ent-
heiligung der Kirche (Wegfall des Sakraments der Priesterweihe) muß schließlich die
Gottmenschheit Christi selber unglaubwürdig machen.
Aber die Verkümmerung des Protestantismus konnte nur durch Selbstmißverständ-
nis seines revolutionären Ernstes geschehen. Er hielt einen ihm innerlich disparaten
Katholizismus fest und ließ die Entfaltung seines Durchbruchsprinzips nicht zu. Der
Ernst des Protestantismus muß sich vollenden, oder er versinkt in die Nichtigkeit der
unredlichen Mimikry des von ihm doch nicht zu erreichenden Katholischen.
Es kann aussehen, als ob die erhofften Verwandlungen nichts weiter als Verzichte
wären. Die kritischen Negationen scheinen die Substanz des Glaubens selber zu tref-
fen: Jesus ohne Christus? Glaube ohne Bekenntnis? Kultus ohne magisch-göttliche
Einwirkung? Meditation ohne ein auf endliches Glücksverlangen gerichtetes Gebet?
Umgang durch Chiffern mit der Transzendenz ohne sie selbst zu haben? Ist nicht al-
les ein Preisgeben, ohne etwas zu gewinnen?
Was aber ist die Substanz? Sie ist nichts von dem, was man »haben« kann, was ei-
nem von einer Instanz in der Welt dargeboten würde, in einer Kirche inkarniert wäre.
Zu ihr ist zu gelangen durch Verwandlung, in jedem Einzelnen durch Umkehr. Dieser
Ernst ist denkend zum Bewußtsein zu bringen, aber nicht durch Denken schon zu ver-