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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0314
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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| Vierter Teil
Vom Wesen der Chiffern

(1) Chiffern leuchten in den Grund der Dinge. Sie sind nicht Erkenntnis. Was in ihnen
gedacht wird, ist Vision und Deutung. Sie entziehen sich allgemeingültiger Erfahrung
und Verifizierbarkeit. Ihre Wahrheit liegt im Zusammenhang mit der Existenz. Die
Zugkraft von der Transzendenz her auf Existenz wird in ihnen Sprache. Sie öffnen
Räume des Seins. Sie erhellen, wozu ich mich entschließe. Sie steigern oder dämpfen
die Bewegungen in meinem Seins- und Selbstbewußtsein.
(2) Im Bewußtsein überhaupt denken wir solche Gegenstände, die wir als reale
Dinge in der Welt als der Punkt des allgemeinen Denkens forschend erkennen. Sie sind,
unabhängig von uns selbst, in eindeutigen Begriffen zu erfassen.
Als Existenz denken wir zur Transzendenz hin in Gegenständen, die wir Chiffern
nennen. Es geschieht zwar im Medium des Bewußtseins überhaupt, das Bedingung al-
ler Helligkeit ist dadurch, daß wir in Gegenständlichkeiten erblicken, vorstellen, den-
ken. In diesem Medium aber denken wir in Chiffern hin zur Transzendenz und hören
wir ihre Sprache, die wir so in der nie vollendeten Eindringlichkeit erfahren dadurch,
daß wir in Klarheit zu uns selbst kommen. Was immer ist und geschieht, was wir selbst
sind, was Transzendenz ist, alles erscheint im Spiegel des Bewußtseins überhaupt.
Die Chiffern haben einen ehrwürdigen Charakter. In ihren geschichtlichen Gestal-
ten haben Menschen die Wahrheit der Wirklichkeit erblickt. In ihrem Lichte und un-
ter ihrer Führung haben sie gelebt. Es waren ungemein verschiedene Weisen der inne-
ren Verfassung, der unbefragten Selbstverständlichkeiten.
(3) Wenn wir von Chiffern sprechen, so meinen wir damit ausdrücklich, daß es sich
nicht um Dinge, Sachen, Sachverhalte, Realitäten handelt. Aber die Inhalte der Chif-
fern haben, so scheint es, zumeist als Realitäten gegolten wie die physischen Realitä-
ten in Raum und Zeit. Man lebte unter ihrem Druck wie unter dem Druck physisch
drohender Realitäten. Als solche haben sie Völker und Zeitalter bezwungen.
Der große Schritt, mit dem der Mensch selbst sich verwandelt, wird getan, wenn
die vermeintliche Leibhaftigkeit des Transzendenten als täuschende Realität preisge-
geben wird zugunsten des Hörens der vieldeutigen Sprache der Chiffern. Die gedach-
ten und anschaulichen Inhalte werden ihrer objektiven Realität entkleidet. Statt hand-
fester Greifbarkeiten bleiben Chiffern in unendlichem Wandel des Deutens und der
Deutbarkeit.

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