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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0189
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Die Idee der Universität [1946]

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sie aufzugeben. Was unterscheidet Lavoisier von einem spekulativen Fanatiker? War es
geistige Größe oder war es der glückliche Zufall? Die Urheber der Forschung und die
Menge der Mitarbeiter in der Folge glaubten an die absolute Wahrheit dieser Vorausset-
zungen und erhoben daher den Anspruch ihrer absoluten Geltung. Aus den Wissen-
schaften erhob sich jedesmal, wenn ein radikaler Versuch mit neuen Voraussetzungen
gemacht wurde, der Sturm von Seiten der jeweiligen Besitzer der Wahrheit gegen den
16 neuen Unsinn. Dabei wurde | jedoch nur immer klarer: Alle Wissenschaft operiert mit
Voraussetzungen, die nicht absolut gelten, nicht das Sein selbst treffen, sondern nur ei-
nen Zug in seiner Erscheinung. Die Voraussetzungen sind nur Versuche. Unter zahllo-
sen vergeblichen Versuchen bloßer Spekulation finden sich spärliche, aber erstaunlich
wirksame Treffer. Daher besteht eine Abneigung aller echten Forscher gegen gedankli-
che Entwürfe als solche, sofern sie nicht ihre Fruchtbarkeit in der Erfahrung gezeigt ha-
ben und nicht weitere Chancen für neue Erfahrung geben.
Der Grundzug dieser Wissenschaft ist: Gerade im Relativieren der Voraussetzun-
gen ist der feste Boden des Allgemeingültigen, ist das zwingend Gewisse in der Erfah-
rung der Realität zu gewinnen.
b) Die neue Wissenschaft begann mit der mathematischen Naturwissenschaft.
Was jedoch als Antrieb hinter diesen Entdeckungen stand, gründete sich als universale
Wissenschaftlichkeit in einer bis dahin in der Welt noch nicht dagewesenen Gestalt.
Noch die griechische Wissenschaft (mit Ausnahme einiger Wege der Mathematik und
des platonischen Denkens) lebte im Raum einer Vollendung, war im ganzen eigent-
lich immer fertig. Die Universalität der griechischen Wissenschaft lag im Weltbild des
geschlossenen Kosmos. Die Universalität der neuen Wissenschaft war dagegen nicht
das systematische Wissen vom Ganzen (wenn auch die Form griechischer Wissen-
schaft als Störung eigentlicher Wissenschaft und als eine die modernen Ergebnisse in
ihrem Sinn verkehrende Denkgestalt für das durchschnittliche Auffassen bis heute
herrscht), sondern die Offenheit nach allen Seiten, die Bereitschaft, alles, was ist, dem
wissenschaftlichen Forschen zugänglich zu machen, in den unendlichen Raum des
Seienden mit immer neuen, auf den vorhergehenden weiterbauenden Versuchen ent-
deckend einzudringen, Ungeahntes aus der Verborgenheit hervorzuholen, statt eines
Kosmos vielmehr in der ungeschlossenen Welt die Idee eines »Kosmos« der wissen-
schaftlichen Methoden und der Wissenschaften in ihrem systematischen Zusammen-
hang zu verwirklichen.
Mit der Unbefangenheit des Forschens erwuchs eine Klarheit über die Mannigfal-
tigkeit des Wirklichseins, über die Sprünge zwischen den Weisen des Wirklichen - dem
17 Leblosen, dem Lebendigen, der Seele, dem Geist - und ein methodisches Be|wußtsein
der Kategorien, durch die wir zu denken und zu erkennen vermögen. Statt der anfäng-
lichen Beschränkung des Verstandes auf die Kategorien des Mechanismus, auf die for-
male Logik, auf die empirische Wirklichkeit im quantitativen Sinne der Meßbarkeit
und Zählbarkeit, statt dieser Entleerung der Welt zu dem, was als verstandesbegreifbar
 
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