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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0197
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Die Idee der Universität [1946]

Zweitens komme ich dadurch, daß ich alle Wege der Erkennbarkeit gehe, durch
Wissen zu jener Erfahrung des eigentlichen Nichtwissens, das mir indirekt das Eine als
die Transzendenz zur Gegenwart bringt, sie wird der heimliche Führer all meines Wis-
senwollens. Durch sie erst ist es beseelt und sinnvoll.
Dieser Sinn ist selbst nicht mehr rational zu bestimmen. Er kann nicht etwa als ge-
wußter zum Ausgang dienen für eine errechnende Wahl von Aufgabe und Weg der
Wissenschaft. Nur in der Wissenschaft, sich ihr anvertrauend, kann der Mensch den
Grund erfahren, aus dem sie kommt, und worauf sie geht.
Frage ich mich, worauf all das Wissen hinaus soll, so kann ich in Gleichnissen ant-
worten: es ist, als ob die Welt erkannt werden wolle - oder als ob es zur Verherrlichung
Gottes in der Welt gehöre, daß wir sie mit allen uns gegebenen Organen erkennen, daß
27 wir in ihr gleichsam nachdenken die Ge | danken Gottes, wenn wir auch nie diese selbst,
sondern nur die Vordergründe ihrer Erscheinung im Abbild erfassen.
Welche Führung die Wissenschaft hat aus der Vernunft im ursprünglichen Wis-
senwollen - durch die Forderung der Welt und im Transzendieren über sie -, das also
entscheidet über ihren Sinn und Wert. Wenn Philosophie das Denken ist, das diese
Führung erhellt, so kann doch auch sie nicht durch Befehl leisten, was im Ursprung
des wissenwollenden Menschen eigenständig wach werden muß.
Aus allem ergibt sich: Wissenschaft ist nicht der feste Boden, auf dem ich ausruhe,
sondern sie ist der Weg, den ich gehe, um in der Gestalt der Unruhe (dieser meinem
Zeitdasein zugehörigen Bewegung des Wissenwollens) mich zu vergewissern der Tran-
szendenz, die schon im Wissenwollen mich führt.
Ist dieses klar geworden, so verstehen wir viele Erfahrungen der Unbefriedigung
am Wissen dadurch, daß wir der innerlichen Führung entglitten sind. Wir spüren es, wenn
wir uns aus Neugier der bloßen Mannigfaltigkeit als solcher überlassen, oder wenn uns
Wissenschaft bloße Beschäftigung wird. Wir horchen immer wieder auf die sinnge-
bende Führung in uns, die uns herausnimmt aus der Endlosigkeit des Beliebigen, und
die die Auswahl unserer Wege beim Studium und beim Forschen bestimmt. Wir füh-
len es wie eine Gewissenlosigkeit, wenn wir - unsere Ratlosigkeit betäubend - uns dem
bloßen »Fleiß«, gleichsam der inneren Trägheit einer bloßen Arbeit, überlassen, statt
uns ständig bereit zu machen für die diese Arbeit erst lenkenden Ideen, die im Ur-
sprung aus dem Einen der Transzendenz sprechen.
Diese Führung aus dem Einen der Transzendenz ist jedoch keineswegs eindeutig.
Von niemandem kann sie als die allein und für alle wahre ergriffen werden, und nie-
mandem ist sie als Besitz zu eigen. Sie findet statt gleichsam aus der Zwiesprache des
Denkenden mit der Vieldeutigkeit des Erkennbaren. Sie verwirklicht sich durch eine
in sich kontinuierliche, voran- und hinauftreibende jeweils geschichtliche Gestalt des
Erkennens. Sie ist wie ein Versuch und ein Wagnis.
Hier liegt der tiefe Grund, warum Wissenschaft als erregende Funktion die Bedin-
gung aller Wahrheit und Wahrhaftigkeit in unserem Dasein wird.
 
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