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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0196
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Die Idee der Universität [1946]

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ten, die allmählich zum Einsturz ihres Gebäudes zu führen drohen. Wissenschaft ist
nicht im ganzen wahr und lebendig ohne den Glauben, der sie trägt.
Anders läßt sich dasselbe ausdrücken: da Wissenschaft sich nicht selbst überlassen
werden kann, braucht sie Führung. Für die Verwirklichung der Wissenschaft ist ent-
scheidend, woher diese Führung kommt und welchen Sinn sie der Wissenschaft gibt.
Weder Nutzen für andere Zwecke noch Selbstzweck kann - wie wir sehen - der
wesentliche Antrieb zur Wissenschaft sein. Wohl kann die Führung von außen Wis-
senschaft zu einem Mittel für anderes verwenden. Aber dann bleibt der Sinn der Wis-
senschaft im ganzen doch verschleiert. Wird dagegen der Endzweck in das wissen-
schaftliche Wissen als solches gelegt, so gerät Wissenschaft in die Sinnlosigkeit. Die
Führung muß von innen kommen, aus dem Grund der Wissenschaft selber, aber aus
einem alle Wissenschaft umgreifenden Ursprung: dieser ist das unbedingte Wissenwol-
len. Die Führung durch unbedingtes Wissenwollen im ganzen kann aber nicht zurei-
chend geschehen mit einem vorher gewußten Zweck und angebbarem, unmittelbar
zu erstrebendem Ziel, sondern nur durch etwas, das selbst erst mit der Eroberung von
Wissen wacher und heller wird, durch Vernunft. Wie ist das möglich?
Das ursprüngliche Wissenwollen in uns ist nicht ein beiläufiges Interesse; ein unbe-
dingter Drang in uns treibt uns voran, als ob unser Wesen erst im Wissen zu sich kom-
men könnte. Kein einzelnes Wissen befriedigt mich, unablässig gehe ich weiter. Ich
möchte mich wissend zum All erweitern.
In dieser Bewegung aus dem ursprünglichen Wissenwollen geschieht die Führung
durch das Eine des Seins. Das Wissenwollen geht nicht in Zerstreutheit auf beliebiges
Einzelnes, sondern durch das Einzelne - da nur dieses geradezu und unmittelbar er-
griffen werden kann - auf das Eine. Ohne den Bezug auf das Eine des Seins verliert Wis-
senschaft ihren | Sinn; durch diesen Bezug aber wird sie, selbst noch in ihren speziali-
stischen Verzweigungen, beseelt.
Das Eine aber ist nirgends geradezu zu finden. Immer wieder ist Gegenstand mei-
ner Wißbarkeit nur ein Einzelnes, ein Mannigfaltiges, ein endlos Vielfaches. Darum
entspringt die Führung im Wissenwollen ständig aus zwei durch Vernunft ins Gren-
zenlose gesteigerten und gegenseitig aufeinander bezogenen Momenten: aus dem Wis-
senwollen dessen, was überall unabsehbar wirklich ist und aus der Erfahrung des Einen
durch ein nur in diesem Wissen erreichbares, erfülltes Nichtwissen:
Erstens also bringt mich Wissenschaft klar und entschieden vor den Tatbestand als
solchen. Immer reiner bringt sie mir zur Gegenwart ein »so ist es«. Ich gewinne den
Blick in die Erscheinung, die ich zwar nicht zureichend deuten, aber wie eine Sprache
vernehmen kann. Wissenschaft zwingt, der wirklichen Erscheinung, aller Wirklich-
keit ins Angesicht zu blicken, damit ich diese Sprache nicht vorzeitig vereinfache und
sie nicht aus Wunsch und Neigung eindeutig und falsch höre. Aus dem Entzücken an
der Schönheit und Harmonie in der Welt treibt Wissenschaft mich in das Erschrecken
vor aller Zerrissenheit, Sinnfremdheit und vor der undeutbaren Zerstörung.

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