Die Idee der Universität [1946]
185
Neuntes Kapitel
Staat und Gesellschaft
Die Universität besteht durch den Staat. Ihr Dasein ist politisch abhängig. Sie kann nur
leben, wo und wie der Staat es will. Der Staat ermöglicht die Universität und schützt sie.
1. Der staatsfreie Raum
Die Universität verdankt ihre Wirklichkeit einer politischen Welt, in der der Grund-
wille herrscht, daß in ihr irgendwo eine reine, unabhängige, unbeeinflußte Wahrheits-
forschung statt|finde. Der Staat will die Universität, weil er sein eigenes Dasein geför- 110
dert weiß, wenn in ihm der reinen Wahrheit irgendwo auch rein gedient wird. Dagegen
würde ein Staat, der keine Selbsteinschränkung seiner eigenen Macht zuläßt, der viel-
mehr Angst hat vor den Folgen der reinen Wahrheitsforschung für seine Macht, nie-
mals eine echte Universität zulassen.
Der Staat duldet und schützt die Universität als einen aus seiner Machtwirkung aus-
gesparten Raum, den er gegen andere Machteinwirkungen sichert. Hier soll das hell-
ste Bewußtsein der Zeit wirklich werden. Hier sollen Menschen leben, die keine Ver-
antwortung haben für das gegenwärtige Tun der Tagespolitik, weil sie allein und
uneingeschränkt die Verantwortung für das Werden der Wahrheit haben. Es ist ein
Raum außerhalb der Welt des Handelns, aber durchdrungen von den Realitäten die-
ser Welt, die in ihm zum Gegenstand der Forschung werden. Hier ist Wirklichkeits-
nähe nicht durch Handeln, sondern durch Erkennen. Wertung und Handeln sind sus-
pendiert zugunsten der Reinheit der Wahrheitsidee.
Der Sinn eines Lebens im Raum außerhalb des Handelns ist nur wirklich, wenn die-
ses Leben von der Leidenschaft des Erkennens getragen wird. Dann ist es ein inneres
Handeln, in Höhepunkten von vollendeter Disziplin des selbstbeherrschten Menschen.
Aber die Erlaubnis zu diesem Leben verführt zu Abgleitungen, die jederzeit stattfinden
und die Atmosphäre des geistigen Tuns trüben. Die Suspension der aktuellen Wertun-
gen führt zur Gleichgültigkeit des Neutralen. Statt suspendiertem Handeln herrscht Be-
quemlichkeit. Die Vorsicht des Geistigen wird zur Angst des Ruhebedürftigen.
2. Die Verwandlung der Universität mit Staat und Gesellschaft
Der Staat gibt die Rechte und die Mittel für das Universitätsleben einmal zu For-
schungszwecken, damit ein für alle stellvertretendes, kontemplatives Erkennen statt-
finde, dann aber, damit Berufe der Gesellschaft hier ihre geistige Nahrung, ihre Bil-
dung und Erziehung und die wissenschaftlichen Erkenntnisse finden, die sie praktisch
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Neuntes Kapitel
Staat und Gesellschaft
Die Universität besteht durch den Staat. Ihr Dasein ist politisch abhängig. Sie kann nur
leben, wo und wie der Staat es will. Der Staat ermöglicht die Universität und schützt sie.
1. Der staatsfreie Raum
Die Universität verdankt ihre Wirklichkeit einer politischen Welt, in der der Grund-
wille herrscht, daß in ihr irgendwo eine reine, unabhängige, unbeeinflußte Wahrheits-
forschung statt|finde. Der Staat will die Universität, weil er sein eigenes Dasein geför- 110
dert weiß, wenn in ihm der reinen Wahrheit irgendwo auch rein gedient wird. Dagegen
würde ein Staat, der keine Selbsteinschränkung seiner eigenen Macht zuläßt, der viel-
mehr Angst hat vor den Folgen der reinen Wahrheitsforschung für seine Macht, nie-
mals eine echte Universität zulassen.
Der Staat duldet und schützt die Universität als einen aus seiner Machtwirkung aus-
gesparten Raum, den er gegen andere Machteinwirkungen sichert. Hier soll das hell-
ste Bewußtsein der Zeit wirklich werden. Hier sollen Menschen leben, die keine Ver-
antwortung haben für das gegenwärtige Tun der Tagespolitik, weil sie allein und
uneingeschränkt die Verantwortung für das Werden der Wahrheit haben. Es ist ein
Raum außerhalb der Welt des Handelns, aber durchdrungen von den Realitäten die-
ser Welt, die in ihm zum Gegenstand der Forschung werden. Hier ist Wirklichkeits-
nähe nicht durch Handeln, sondern durch Erkennen. Wertung und Handeln sind sus-
pendiert zugunsten der Reinheit der Wahrheitsidee.
Der Sinn eines Lebens im Raum außerhalb des Handelns ist nur wirklich, wenn die-
ses Leben von der Leidenschaft des Erkennens getragen wird. Dann ist es ein inneres
Handeln, in Höhepunkten von vollendeter Disziplin des selbstbeherrschten Menschen.
Aber die Erlaubnis zu diesem Leben verführt zu Abgleitungen, die jederzeit stattfinden
und die Atmosphäre des geistigen Tuns trüben. Die Suspension der aktuellen Wertun-
gen führt zur Gleichgültigkeit des Neutralen. Statt suspendiertem Handeln herrscht Be-
quemlichkeit. Die Vorsicht des Geistigen wird zur Angst des Ruhebedürftigen.
2. Die Verwandlung der Universität mit Staat und Gesellschaft
Der Staat gibt die Rechte und die Mittel für das Universitätsleben einmal zu For-
schungszwecken, damit ein für alle stellvertretendes, kontemplatives Erkennen statt-
finde, dann aber, damit Berufe der Gesellschaft hier ihre geistige Nahrung, ihre Bil-
dung und Erziehung und die wissenschaftlichen Erkenntnisse finden, die sie praktisch