Stellungnahme von Karl Jaspers zu dem von der
Redaktion des kolibri im November 1967 gestellten Thema:
»Funktion der Vorlesungen und einer organisierten
Scriptenzentrale«468
| Ihre Frage, wie eine Vorlesung im Zeitalter der Bücher beschaffen sein müsse, damit n
sie noch sinnvoll sei, ist alt und doch von neuer Bedeutung. Die Beantwortung setzt
einige Differenzierungen voraus:
Vorlesungen halte ich dann für unersetzlich, wenn sie aus der je einmaligen Spon-
taneität des Dozenten kommen. Solche Vorlesungen sind mehr als es etwas Gedruck-
tes sein kann, nämlich selber ein unmittelbarer Akt der geistigen Produktivität. An ihm
als Student teilzunehmen, und sei es auch nur im Zuhören, erweckt zu eigener Initia-
tive und läßt etwas vom Schwung der geistigen Arbeit spüren. In ihnen stehen sich Do-
zent und Studenten in einem sokratischen Verhältnis gegenüber, jeder der Kritik des
anderen ausgesetzt und für sie offen. Ja vielleicht darf man sagen, daß der Dozent, in
dem Maß, wie es ihm ernst ist, nicht nur das Recht der Studenten auf Kritik akzeptiert,
sondern Kritik will. Deshalb dürften solche Vorlesungen eigentlich nicht die ganze
Stunde füllen, sondern müßten einen Teil zu Frage und Diskussion frei lassen. In ihm
müßten die Studenten durch Fragen und Kritik zeigen, daß sie von der geistigen Akti-
vität des Dozenten sich haben ergreifen lassen.
Anders ist es mit den Vorlesungen, die abgelesen werden. Sie sind, so scheint es,
grundsätzlich durch ein Skriptum ersetzbar. Doch muß man auch hier noch unter-
scheiden: Es gibt geistige Begabungen, die in der öffentlichen Spontaneität versagen.
In der Stille des gelehrten Lebens schreiben sie vielleicht Texte von hoher Geistigkeit.
Etwas davon könnte noch von ihrer persönlichen Präsenz ausgehen, und es wäre dann,
wenn auch nicht eine unmittelbare geistige Spontaneität, so doch ein geistiges Flui-
dum im Lesen des Dozenten lebendig, das selber in anderer Weise bildend wirkt als es
Texte allein vermögen. Auch hier würde mit dem Wegfall der Vorlesung etwas Wesent-
liches verlorengehen.
Es bleibt jene dritte Klasse von Vorlesungen, hinter denen man mit Recht weder
eine geistige Leistung noch geistige Spontaneität sucht. Es sind die vielleicht noch rhe-
torisch geschickten stundenfüllenden Zusammenstellungen, die man schon nach we-
nigen Semestern zur eigenen Beruhigung wiederholt. Sie sind ein öffentlicher Skandal.
Sie auch noch zu drucken, wäre nicht nur sinnlos, sondern verderblich. Mir scheint
Redaktion des kolibri im November 1967 gestellten Thema:
»Funktion der Vorlesungen und einer organisierten
Scriptenzentrale«468
| Ihre Frage, wie eine Vorlesung im Zeitalter der Bücher beschaffen sein müsse, damit n
sie noch sinnvoll sei, ist alt und doch von neuer Bedeutung. Die Beantwortung setzt
einige Differenzierungen voraus:
Vorlesungen halte ich dann für unersetzlich, wenn sie aus der je einmaligen Spon-
taneität des Dozenten kommen. Solche Vorlesungen sind mehr als es etwas Gedruck-
tes sein kann, nämlich selber ein unmittelbarer Akt der geistigen Produktivität. An ihm
als Student teilzunehmen, und sei es auch nur im Zuhören, erweckt zu eigener Initia-
tive und läßt etwas vom Schwung der geistigen Arbeit spüren. In ihnen stehen sich Do-
zent und Studenten in einem sokratischen Verhältnis gegenüber, jeder der Kritik des
anderen ausgesetzt und für sie offen. Ja vielleicht darf man sagen, daß der Dozent, in
dem Maß, wie es ihm ernst ist, nicht nur das Recht der Studenten auf Kritik akzeptiert,
sondern Kritik will. Deshalb dürften solche Vorlesungen eigentlich nicht die ganze
Stunde füllen, sondern müßten einen Teil zu Frage und Diskussion frei lassen. In ihm
müßten die Studenten durch Fragen und Kritik zeigen, daß sie von der geistigen Akti-
vität des Dozenten sich haben ergreifen lassen.
Anders ist es mit den Vorlesungen, die abgelesen werden. Sie sind, so scheint es,
grundsätzlich durch ein Skriptum ersetzbar. Doch muß man auch hier noch unter-
scheiden: Es gibt geistige Begabungen, die in der öffentlichen Spontaneität versagen.
In der Stille des gelehrten Lebens schreiben sie vielleicht Texte von hoher Geistigkeit.
Etwas davon könnte noch von ihrer persönlichen Präsenz ausgehen, und es wäre dann,
wenn auch nicht eine unmittelbare geistige Spontaneität, so doch ein geistiges Flui-
dum im Lesen des Dozenten lebendig, das selber in anderer Weise bildend wirkt als es
Texte allein vermögen. Auch hier würde mit dem Wegfall der Vorlesung etwas Wesent-
liches verlorengehen.
Es bleibt jene dritte Klasse von Vorlesungen, hinter denen man mit Recht weder
eine geistige Leistung noch geistige Spontaneität sucht. Es sind die vielleicht noch rhe-
torisch geschickten stundenfüllenden Zusammenstellungen, die man schon nach we-
nigen Semestern zur eigenen Beruhigung wiederholt. Sie sind ein öffentlicher Skandal.
Sie auch noch zu drucken, wäre nicht nur sinnlos, sondern verderblich. Mir scheint