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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0201
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Die Idee der Universität [1946]

Geist bewegt sich im Klarwerdenwollen als Ganzwerdenwollen. Ganzheit hat Ge-
halt durch die Idee. Diese wirkt in uns als Antrieb, sie ist objektiv das nie vollendete
Ziel. Sie gibt im Forschen systematische Einheit durch Entwürfe, welche als Schemata
der Idee zwar nie diese selber, aber Schritte oder Mittel ihrer Verwirklichung auf dem
Wege sind. Geist ist die Macht der Vision; ohne Phantasie ist auch keine Wissenschaft
schöpferisch. Geist ist die Fähigkeit der Wesensanschauung; er erblickt, was ist; er ver-
32 steht das Innen; und er bringt herbei, | was als Gehalt dann der wissenschaftlichen Er-
hellung zugänglich wird.
Existenz trägt das geistige Leben durch den unbedingten Entschluß.131 Ohne diesen
wird alles zum Spiel der genießenden Anschauung in unverbindlicher intellektueller
Bewegung und ästhetischer Haltung. Der unobjektivierbare Sinn des Tuns erscheint
in der Gewißheit des einzelnen Selbst. Das Selbst ist sich seiner bewußt in bezug auf
die Transzendenz, durch die es ist. Die Ideen finden ihren Weg, wenn der Ernst der Exi-
stenz ihnen Kraft gibt.
Wenn der Geist in sich schließende Ganzheiten anschaut, die Existenz im Unbe-
dingten gründet, so ist Vernunft das Medium grenzenloser Erweiterung. Sie erlaubt
nicht die Zerstreutheit der Isolation, sondern will Zusammenhang.225 Daher fordert
sie im Denken Konsequenz, fordert, nicht dieses und jenes ganz unabhängig vonein-
ander zu denken, sondern aufeinander zu beziehen, die Widersprüche zur Geltung zu
bringen, keine Sache und keinen Gedanken vereinzelt zu lassen. Die Vernunft in uns
drängt auf verstehende Berührung mit allem, was ist. Sie durchbricht jede Beschrän-
kung, befreit von jeder Befangenheit. Sie läßt gelten und rettet gleichsam, wohin sie
blickt, den Kern des Seienden.
Dieses Umgreifende, das wir sind oder sein können, ob wir es als Geist, als Existenz,
als Vernunft uns bewußt machen, ist das eigentliche Leben, in dem Wissenschaft ih-
ren Sinn und Grund findet. Daher das Geheimnis, das doch jeden Augenblick fühlbar
ist, daß im Betriebe der Wissenschaften nicht der Verstand allein und nicht die hand-
greifliche Leistung die Sache ausmacht, sondern daß in der wissenschaftlichen Welt
etwas schwingen muß: es ist in Werk und Persönlichkeit mehr als der je bestimmte
endliche Inhalt einer Erkenntnis.
Geist, Existenz, Vernunft tragen die Wissenschaftlichkeit. Sie sind die Philosophie
in der Wissenschaft, auch wenn sie nicht zum ausdrücklichen Bewußtsein kommen.
Immer sind sie fühlbar, wo Wissenschaft als solche an ihren Grenzen steht. Von ih-
nen her kann die Leidenschaft des Wissenwollens gerade die Leidenschaft zum ei-
gentlichen Nichtwissen sein, das heißt zu dem Nichtwissen, das nicht ein bloßes
Nochnichtwissen ist, sondern das Wesentliche, das durch das Wissen offenbar wird,
33 und nur um so tiefer sich zeigt, je klarer und reicher das | Wissen ist. Insofern ist die
Weise des Nichtwissens die Gegenwärtigkeit des Philosophierens in allen Wissen-
schaften.
 
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