Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0368
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]

293

Zweitens ist wissenschaftliches Wissen als solches zwingend gewiß. Denn was ich
wissenschaftlich verstehe, ist schon für den bloßen Verstand einsichtig. Es ist richtig
als ein Bestehendes, das zu seiner Richtigkeit keines Einsatzes meines eigenen Wesens
bedarf. Das Gegenteil solcher Wißbarkeit ist die Überzeugung. Sie ist wahr nur zugleich
mit dem Einsatz der Person, die in ihr lebt. Daher konnte Galilei sinnvollerweise vor
der Gewalt der Inquisition widerrufen (und der nach dem Widerruf der Erdbewegung
getane Ausspruch: »aber sie bewegt sich doch«202 ist, wenn er auch nicht getan wäre,
sinngemäß erfunden: Galilei wußte, daß Widerruf an dieser Wahrheit nichts ändert).
Bruno203 dagegen entwickelte in einem ewig denkwürdigen Selbstüberwindungspro-
zeß den Heroismus, der ihm bei gleichzeitiger Bereitschaft zu allen Widerrufen von
nicht zentraler Art eine Verleugnung seiner philosophischen Grundüberzeugung un-
möglich machte: Es waren nicht wissenschaftlich zwingende Einsichten, vielmehr sol-
che, deren Wahrheit mit dem Preisgeben im Widerruf für das Bewußtsein des Philoso-
phen auch selbst aufgehoben worden wäre.
Drittens sind wissenschaftliche Einsichten allgemeingültig. Sie bewähren sich da-
durch, daß sie von jedem, der sie versteht, auch als zwingend erfahren werden. Da-
her verbreitet sich die wissenschaftliche Wahrheit auch faktisch überall hin, wo über-
haupt wissenschaftlich gedacht wird. Diese Einmütigkeit in wissenschaftlichen
Einsichten ist das Kennzeichen der Allgemeingültigkeit. Das Gegenteil ist die Nicht-
allgemeingültigkeit der philosophischen Überzeugungen. Man kann sagen: Die Un-
bedingtheit der Überzeugung steht in Zusammenhang mit der Nichtallgemeingültig-
keit (denn bestünde der Inhalt der Überzeugung an sich, so brauchte er nicht meines
Bezeugens); die Relativität der wissenschaftlichen Einsicht aber steht in Zusammen-
hang mit ihrer Allgemeingültigkeit (denn Forschung wäre nicht in der zu ihr gehö-
renden Bewegung des Fortschreitens, wenn zwingendes Wissen auch absolutes Wis-
sen wäre).

| 2. Engerer, entschiedener und weiterer, unklarer Begriff von Wissenschaft 43

Dieser Begriff von Wissenschaft, so einfach er ist, hat sich nur langsam verwirklicht
und ist immer in Gefahr. Seine Herausarbeitung ist eine bis heute nicht vollendete Be-
wegung.
Die Wissenschaft ist noch nicht das Denken überhaupt, das schon mit der ersten
Vergegenständlichung im menschlichen Bewußtsein beginnt, ist noch nicht die In-
tellektualisierung des Gedachten in den Zusammenhängen logischer Schlußketten,
ist noch nicht die rationale Ordnung von Begriffen und Erscheinungen. Sondern Wis-
senschaft entsteht erst mit der scharfen Abgrenzung innerhalb des weiten Bereichs des
Denkens überhaupt gegenüber dem nicht wissenschaftlichen Wissen. Die positiven
Charaktere dieser Wissenschaft, die sich in den Schritten ihrer Entfaltung seit dem 14.
Jahrhundert wiederholt nova scientia204 nannte, sind folgende:
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften