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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0433
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358

Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]

Dieses Ideal ist nicht vollendet zu verwirklichen, weil alle Menschlichkeit im Fluß
ist, und jede Verwirklichung, selbst wenn sie einen Moment gelänge, im nächsten Au-
genblick sich innerlich verwandeln würde zu den alten Unstimmigkeiten.
Denn:
a) Die Anschauung, welche persönlichen Werte die höchsten seien, wechselt. Die
verschiedenen Begabungen sind je nach der soziologischen, ökonomischen und tech-
nischen Weltlage verschieden gut zu brauchen.
b) Ohne Dauer und Kontinuität des Ranges durch die Generationen geht es nicht.
Ob die Menschen als Nachkommen (ererbter Rang) oder als Schüler sich ablösen, ist
133 kein erheblicher | Unterschied. Die Folgenden pflegen, nachdem einmal eine schöp-
ferische Gruppe die Führung hatte, Epigonen zu sein, Tradition zu haben und den ur-
sprünglichen Geist zu verlieren.
Das Ideal, schon aus diesen Gründen stets auch im Verfall, ist angewiesen auf die
beste Auslese für die führenden Tätigkeiten aus der Gesamtheit der jeweils Lebenden.
Diese Auslese findet unmerklich statt oder wird bewußt gelenkt. Sie ist unumgänglich.
Die sie bewirkenden Kräfte erreichten den Sinn der gerechten Verteilung nur höchst
beschränkt. Das Ideal, daß jeder Mensch seiner Anlage entsprechend erhielte, lernte,
täte, was er seinem Wesen nach kann, ist selbst bei den größten und glücklichsten
Menschen nicht erreicht. Der Mensch ist ein der Idee nach Unendliches, das jeweils
in endliche Bedingungen eingespannt ist und nur in diesen, indem es sie ergreift, Sub-
stanz gewinnt. Angesichts dieser Situation kommt es für jeden Menschen darauf an,
seine Einschränkungen zu übernehmen und in ihnen frei zu werden.
Die Einschränkung besteht von Geburt an durch Vererbung und Anlage. Die Art
seiner mitgegebenen Werkzeuge legen ihm Fesseln an, die er nicht abzuwerfen ver-
mag. Dann lebt der Mensch in der Zeit und kann nicht alles zugleich verwirklichen,
was als Möglichkeit in ihm liegt, auch nicht nacheinander, denn das Leben ist be-
grenzt.
Die Einschränkung besteht weiter durch Herkunft und soziologische Bedingun-
gen. Sie geben den Anlagen verschieden günstige Chancen.
Trotz allem bleibt der Mensch sich seiner Freiheit bewußt. Er übernimmt seine
Schranken und ergreift seine Chancen.51 So allein kann und soll sich der einzelne
Mensch gegenüber dem Zwang der Schranken und der Offenheit der Chancen verhal-
ten im Kampf um seine Verwirklichung.
Ganz anders sieht die Dinge der psychologische und soziologische Beobachter, der
Tatsachen feststellen will, um aus ihnen Maßnahmen abzuleiten, die die Auslese zu-
gunsten der Besten fördern und sinnvoll lenken sollen. Das ist ein bis zu einem gewis-
sen Grade ergiebiges Erkenntnisverfahren, das jedoch als Erkenntnis und erst recht in
seinen planenden Folgen strenger Kritik bedarf, damit die Freiheit des Menschen
134 weder in der | Erkenntnis vergessen noch durch Maßnahmen mehr als nötig einge-
schränkt werde.
 
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