Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0524
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Wissenschaft, Lehrfreiheit und Politik

449

Rossmann: Damit reduziert sich dieser Fall auf die Modalitäten seiner Behandlung
gemäß den Konsequenzen, die der Ministerpräsident aus seiner Kritik gezogen hat:
nämlich nicht den Kritisierten etwa disziplinarisch aus dem Amt entfernen, sondern
diese Kritik bei der Prüfung zu verwenden, ob die vom Senat der Hochschule vorge-
schlagene Ernennung berechtigt sei und um darüber dann seinen Kultusminister mit
dem Senatsvertreter in eine Besprechung eintreten zu lassen. Damit wird hervorgeho-
ben, daß die größte Verantwortung für das Leben und die Freiheit der Universität bei
den Habilitationen und Berufungen liegt. Es ist die Lebensfrage der Universität, daß
die Auswahl der Persönlichkeiten gelingt, die da sind, aber gefunden werden müssen.
Die Lehrfreiheit ist also letztlich allein von den Persönlichkeiten abhängig, die fähig
sind, sie auch zu verwirklichen.
Jaspers: Ich stimme Ihnen zu. Die Lehrfreiheit wird nicht bedroht durch das Recht
der Selbstergänzung der Universitätslehrer unter sorgsamster Prüfung. Sie wird auch
nicht bedroht durch die Kontrolle der so gewonnenen Universitätsvorschläge seitens
des Staates - vorausgesetzt, daß der Staat durch Persönlichkeiten vertreten ist, die sich
zu informieren verstehen, eigene Urteilskraft besitzen und an der Idee der Universität
geistig teilhaben. - Wohl aber ist das Leben der Universität bedroht, wenn durch das
Verhalten von Professoren und Regierungen die Besten vom Beruf des Universitätsleh-
rers sich abgeschreckt fühlen und Schlechte - etwa unter dem Kriterium des Bedarfs
an Lehrkräften bloß nach Funktionen - berufen werden. Schlechte ziehen Schlechtere
nach sich.
Rossmann: Nachdem wir von einem Beispiel aus der Realität gesprochen haben, die
als Realität immer in einer kaum entwirrbaren Verknäuelung der Motive und Auffas-
sungen verbleibt, schlage ich vor, nunmehr das Problem der Lehrfreiheit grundsätz-
lich zur Frage zu stellen.
Jaspers: Gut, ich bin einverstanden. Eine verbindliche Antwort auf die Frage, worin
die Forderung der Lehrfreiheit ihren Grund hat, erscheint mir geeignet, die auch in
unserem Beispiel wirksamen Voraussetzungen für die Lehrfreiheit einer Prüfung zu
unterziehen. Worin sehen Sie den Rechtsgrund der Lehrfreiheit überhaupt?
Rossmann: Im Begriff der modernen Wissenschaft selbst. Die Lehrfreiheit ist Be-
dingung der Forschung, die kein in sich geschlossenes Weltbild kennt. Zur modernen
Wissenschaft als Forschung gehört das Bewußtsein, daß ihre Wahrheiten niemals
endgültigen Charakter besitzen, sondern stets revidierbar sind. In der Revidierbarkeit
ihrer Erkenntnisse besteht ihre Erweiterung und ihr Fortschritt. Sie ist - im Gegensatz
zu jeder in sich geschlossenen Weltdeutung theologisch- oder ideologisch-dogmati-
scher Gestalt - eine unabschließbare, sich offenhaltende Wahrheitsvergewisserung,
die selber tun muß, was sie erkennen will. Wenn derart ihre Wahrheit auf dem Wege
ist, im Versuchen gesucht wird, dann ist sie angewiesen auf völlige Freiheit der Mit-
teilung. Forschungs- und Lehrfreiheit bedingen einander. Die christlich-scholasti-
sche Universität kannte beide nicht. Denn unter der Praemisse eines in sich geschlos-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften