Einleitung der Herausgeberin
Karl Jaspers starb 1969 in Basel. Nach einer lokalen Sitte hatte er mit Blick auf seinen
Tod einen kurzen autobiographischen Abriss bereitgelegt, der bei der Gedenkfeier ver-
lesen werden sollteJjaspers’ selbstverfasster Nekrolog kann durchaus als philosophi-
sches Vermächtnis gelesen werden. Wie in jenen Bildern, deren Fluchtpunkt außer-
halb der Zeichenfläche liegt, skizziert hier der Philosoph anhand des eigenen
Lebenslaufs den Weg, den die Disziplin nach ihm einschlagen sollte: »aus dem Ende
der europäischen Philosophie in eine kommende Weltphilosophie«.1 2 Der Selbst-Nach-
ruf ist aber zugleich auch eine Selbstdarstellung. So verstanden, fällt an dem zugege-
ben knappen Text auf, dass in dem nachgezeichneten Weg vom eigenen Philosophie-
ren, das »seit der Schulzeit keimhaft da war«,3 bis zur kommenden Weltphilosophie
die Psychiatrie, Jaspers’ erstes Forschungsfeld, gänzlich fehlt.
Dass es sich dabei weniger um eine Platzfrage als um eine Grundhaltung handelt,
kann man aus der Rundfunkaufnahme von 1966/67 schließen, die als ausführliches
Selbstporträt veröffentlicht wurde.4 Hier sind die spärlichen Hinweise auf die Medizin
beiläufig und würden wohl den Eindruck einer nebensächlichen Parenthese
vermitteln,5 hätte Jaspers nicht schon in seiner Philosophischen Autobiographie diesem
Missverständnis vorgebeugt: Die Medizin ist in seinen Lebensskizzen nicht deshalb
abwesend, weil sie für ihn unbedeutend gewesen wäre, sondern weil Jaspers sie in seine
Philosophie integriert. Die »Psychopathologie« ist ein berechtigtes Kapitel seiner phi-
losophischen Lebensgeschichte.6 Er habe nämlich »von Jugend auf« philosophiert und
die Medizin wie auch die Psychopathologie »aus philosophischen Motiven«7 ergrif-
1 Vgl. Jaspers: »Nekrolog von Karl Jaspers selbst verfasst«. Zu der besonderen Basler Sitte der selbst-
verfassten Leichenrede vgl. R. Hartmann: »Das Autobiographische in den Basler Leichenreden
des 20. Jahrhunderts«, in: R. Lenz: Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Köln,
Wien 1975,328-344.
2 Jaspers spricht hier von seiner Teilnahme an der »Aufgabe des Zeitalters«, diesen Weg zu finden
(Jaspers: »Nekrolog«, 4). Zum Begriff und zur Idee der Weltphilosophie siehe u.a. H. Saner:
»Jaspers’ Idee einer kommenden Weltphilosophie«, in: L. Ehrlich, R. Wisser (Hg.): Karl Jaspers today.
Philosophy at the threshold ofthe future, Washington 1988, 75-92.
3 Jaspers: »Nekrolog«, 3.
4 Vgl. Jaspers: »Karl Jaspers - Ein Selbstporträt«.
5 Dass Jaspers eine medizinische Laufbahn eingeschlagen hatte, ist nur vereinzelten Einschüben
zu entnehmen. Vgl. z.B. ebd., 22 und 31.
6 Vgl. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 17-31.
7 Ebd., 30.
Karl Jaspers starb 1969 in Basel. Nach einer lokalen Sitte hatte er mit Blick auf seinen
Tod einen kurzen autobiographischen Abriss bereitgelegt, der bei der Gedenkfeier ver-
lesen werden sollteJjaspers’ selbstverfasster Nekrolog kann durchaus als philosophi-
sches Vermächtnis gelesen werden. Wie in jenen Bildern, deren Fluchtpunkt außer-
halb der Zeichenfläche liegt, skizziert hier der Philosoph anhand des eigenen
Lebenslaufs den Weg, den die Disziplin nach ihm einschlagen sollte: »aus dem Ende
der europäischen Philosophie in eine kommende Weltphilosophie«.1 2 Der Selbst-Nach-
ruf ist aber zugleich auch eine Selbstdarstellung. So verstanden, fällt an dem zugege-
ben knappen Text auf, dass in dem nachgezeichneten Weg vom eigenen Philosophie-
ren, das »seit der Schulzeit keimhaft da war«,3 bis zur kommenden Weltphilosophie
die Psychiatrie, Jaspers’ erstes Forschungsfeld, gänzlich fehlt.
Dass es sich dabei weniger um eine Platzfrage als um eine Grundhaltung handelt,
kann man aus der Rundfunkaufnahme von 1966/67 schließen, die als ausführliches
Selbstporträt veröffentlicht wurde.4 Hier sind die spärlichen Hinweise auf die Medizin
beiläufig und würden wohl den Eindruck einer nebensächlichen Parenthese
vermitteln,5 hätte Jaspers nicht schon in seiner Philosophischen Autobiographie diesem
Missverständnis vorgebeugt: Die Medizin ist in seinen Lebensskizzen nicht deshalb
abwesend, weil sie für ihn unbedeutend gewesen wäre, sondern weil Jaspers sie in seine
Philosophie integriert. Die »Psychopathologie« ist ein berechtigtes Kapitel seiner phi-
losophischen Lebensgeschichte.6 Er habe nämlich »von Jugend auf« philosophiert und
die Medizin wie auch die Psychopathologie »aus philosophischen Motiven«7 ergrif-
1 Vgl. Jaspers: »Nekrolog von Karl Jaspers selbst verfasst«. Zu der besonderen Basler Sitte der selbst-
verfassten Leichenrede vgl. R. Hartmann: »Das Autobiographische in den Basler Leichenreden
des 20. Jahrhunderts«, in: R. Lenz: Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Köln,
Wien 1975,328-344.
2 Jaspers spricht hier von seiner Teilnahme an der »Aufgabe des Zeitalters«, diesen Weg zu finden
(Jaspers: »Nekrolog«, 4). Zum Begriff und zur Idee der Weltphilosophie siehe u.a. H. Saner:
»Jaspers’ Idee einer kommenden Weltphilosophie«, in: L. Ehrlich, R. Wisser (Hg.): Karl Jaspers today.
Philosophy at the threshold ofthe future, Washington 1988, 75-92.
3 Jaspers: »Nekrolog«, 3.
4 Vgl. Jaspers: »Karl Jaspers - Ein Selbstporträt«.
5 Dass Jaspers eine medizinische Laufbahn eingeschlagen hatte, ist nur vereinzelten Einschüben
zu entnehmen. Vgl. z.B. ebd., 22 und 31.
6 Vgl. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 17-31.
7 Ebd., 30.