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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0009
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VIII

Einleitung der Herausgeberin

fen, um zu »erkennen, was möglich ist«,8 und »die Wirklichkeit kennenzulernen.«9 So-
mit hat Jaspers - wenn auch indirekt - die hier versammelten Jugendschriften selbst
in sein philosophisches Lebenswerk eingeordnet.
Als Stellungnahme zu seinem Frühwerk dürfte aber auch eine zweite Passage des
»Selbstporträts« gelten. Hier fragt sich Jaspers, wie es möglich war, »dass ein durch-
schnittlich begabter Mensch, der in der Frühe seiner Arbeiten nicht eine Spur von glän-
zender Jugendgenialität entfaltet hatte«, es später zum anerkannten Philosophen
brachte.10 »Die Umstände«, antwortet er, »die Glücksfälle, die hilfreichen Menschen
waren zufällig. Im Rückblick, im ganzen gesehen, erscheint mir in der Reihe ein
Sinn«.11 Anerkennung des Zufalls und retrospektive Sinngebung sind bei Rückbesin-
nungen durchaus üblich. Paul Valery hat diese nachträglichen Konstruktionen in sei-
nem Essay »Das Leben ist eine Erzählung« treffend thematisiert.12 Darin weist er je-
doch abschließend auf eine alternative Möglichkeit der biographischen Darstellung
hin, die gerade die Kontingenz, nicht den Zusammenhang, in den Vordergrund stellt:
»in jedem Augenblick den Zufall wiederherzustellen, statt eine Abfolge zu schmieden,
die sich zusammenfassen läßt, und eine Kausalität, die sich in einer Formel fassen läßt«.13
Die Auseinandersetzung mit Jaspers’ frühen psychiatrischen Schriften bietet gerade
diese Gelegenheit, in Ablösung von der nachträglichen Konstruktion die Kontingenz
wiederherzustellen und das Urteil über jeglichen übergeordneten (philosophischen)
Sinn zunächst einmal zurückzustellen.

8 Ebd., n.
9 Ebd., 12. - Als Jaspers vom Jura- zum Medizinstudium wechselte, schrieb er den Eltern: »Die Phi-
losophie wird [...] dagegen durch Medizin und Naturwissenschaften bei mir nur noch mehr be-
lebt werden und ihrerseits mich hoffentlich vor Einseitigkeit, dem üblen naturwissenschaftlichen
Hochmut, bewahren [...]. Die Philosophie wird aber, wenn ich Medizin studiere, nicht nebenher
getrieben werden, wie ich das als Jurist tat, sondern natürliche Folge sein.« (»Studium 1901-1907«,
38). In der Tat beschäftigte sich Jaspers schon während des Medizinstudiums mit erkenntnisthe-
oretischen Fragen. Vgl. das Typoskript »W. A. Ethika. Dezember 1904« (DLA, A: Jaspers) und ein
weiteres, ebenfalls auf 1904 datiertes, Typoskript (ebd.): »Hat die Frage einen Sinn, ob wir richtig
oder unrichtig erkennen und ob unsere Erkenntnis »richtig funktioniert? 2. Darf man es für be-
rechtigt halten, wenn ein Mensch etwas, was unserer gewöhnlichen Erkenntnis widerspricht, für
wahr hält, weil er entsprechende Erlebnisse zu haben meint?«
10 Jaspers: »Karl Jaspers - Ein Selbstporträt«, 29.
11 Ebd., 30.
12 Vgl. P. Valery: »Das Leben ist eine Erzählung«, in ders.: Werke, hg. von J. Schmidt-Radefeldt, Bd. 5,
Frankfurt a.M. 1991,357.
13 Vgl. ebd. Auf diesen Text Valerys und auf dessen historiographische Relevanz wurde ich durch die
Lektüre von F. Vidals Piaget Before Piaget (Boston 1994) aufmerksam.
 
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