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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0282
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

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Messungen belehrt, wird er nach einiger Zeit das richtige Realitätsurteil fällen: die Linien
sind in Wirklichkeit parallel. Trotzdem wird der Objektivitätscharakter bleiben und der
Mensch, der weiß, die Linien seien parallel, kann sie so wenig parallel sehen wie er ein
Rot grün sehen kann. Sie sind leibhaftig und sichtbar gegeneinander geneigt.
Die nun gewonnenen Unterscheidungen stellen wir zweckmäßig noch einmal
übersichtlich zusammen, bevor wir auf eine genauere Charakterisierung der einzelnen
Momente und ihrer Genese eingehen.
I. In der uns als erstes gegebenen Wahrnehmung unterscheiden wir
1. das Material der Empfindungen,
2. die Raum- und Zeitanschauung,
3. die Akterlebnisse.
Mit diesen Bestandteilen ist der Objektivitätscharakter in aller Wahrnehmung gege-
ben. Er bleibt auch bei richtigem Realitätsurteil, z.B. bei Nachbildern und Halluzina-
tionen bestehen. Über seine Stellung, sein Wesen sind wir uns jetzt noch ebenso unklar
wie über seine Abhängigkeit.
II. Alle diese Momente sind gegeben in einem zwar wohl analysierbaren, aber
unteilbaren Ganzen, an das sich in wechselnder Weise Vorgänge anschließen, die in
ihrer Abhängigkeit von jenem gegebenen Ganzen und in den Beziehungen zum übri-
gen Bewußtsein »verständlich«, somit nicht bloß gegeben und eventuell durch außer-
bewußte Vorgänge »erklärbar« sind. Wir haben unterschieden:
1. den Wirklichkeitscharakter, der, ohne ausdrückliches Urteil zu sein, fast
jedem in einem Wahrnehmungsakt gemeinten Gegenstände zukommt, solange keine
Urteilsbildung stattfindet,
2. das Realitätsurteil, das als ein differenzierterer Zustand jenes Erlebnis des
Wirklichkeitscharakters ersetzt,
3. das psychologische Urteil, z.B. jener Gegenstand habe Objektivitätscharak-
ter, oder: ich sehe dieses Bild im gleichen Raum mit dem Bette. - Zu diesen psycholo-
gischen, deskriptiven Urteilen können erklärende kommen, | z.B.: das ist ein Nachbild, 201
oder: das ist eine Halluzination, in dem Sinne: dieser Gegenstand entsteht für mich
nur durch einen Vorgang im Nervensystem.
Die Gliederung dieser Übersicht in zwei Klassen ist nicht zufällig. Jene Momente der
ersten Klasse sind aus der als Ganzes gegebenen Wahrnehmung herausanalysiert. Wir kön-
nen keines dieser Momente wegdenken, ohne daß damit die Wahrnehmung aufhörte,
Wahrnehmung zu sein. Den Objektivitätscharakter haben wir, wenn auch zunächst noch
mit einem Fragezeichen, dazu gestellt, weil er ebenfalls wie jene anderen Momente
unmittelbar gegeben ist und keine im Bewußtsein liegende und damit dem Verständnis
zugängliche Abhängigkeit von anderen psychischen Elementen zu haben scheint.
Umgekehrt sind jene Momente der zweiten Klasse erst auf Grund der Wahrneh-
mung im Bewußtsein und in verständlicher Abhängigkeit von ihr und von anderen
Bewußtseinsinhalten entstehende Phänomene.
 
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