238 Zur Analyse der Trugwahrnehmungen
ken wir, daß der Fleck entsprechend dieser Bewegung seinen Ort wechselt. Sofort fällen
wir das Urteil: der Fleck ist nicht wirklich. Der Kenner der Erscheinung urteilt dazu: das
ist ein Nachbild. Wir haben jetzt ein Realitätsurteil, und zwar ein richtiges Realitätsur-
teil gefällt. Was ist nun aus dem Nachbild geworden? Ist es anders geworden? Nein, es
hat den eigentümlich objektiven Charakter, der es von jeder noch so lebendigen Vor-
stellung unterscheidet, bewahrt, es steht dort im objektiven Raum leibhaftig an der
Wand, hat diese persönliche Gegenwärtigkeit, die ihm wie realen Wahrnehmungen
zukommt. Statt jener früheren selbstverständlichen Wirklichkeit eignet ihm nun eine
nicht so selbstverständliche Unwirklichkeit, die auf Grund eines im Bewußtsein entstan-
denen Urteils uns jetzt bewußt ist. Das, was beim Nachbild trotz der Verschiedenheit,
daß es einmal als real und nun als nicht real von uns beurteilt wird, gleich bleibt, nennen
wir den Objektivitätscharakter oder die Leibhaftigkeit.
Entsprechende Unterscheidungen können wir bei den echten Sinnestäuschungen
machen. Binswanger erzählt (Lehrbuch, S. 10)523 von einem paranoischen Arzte, der zu
Beginn der Erkrankung volle Besonnenheit wahrte und sich in lange Diskussionen dar-
über einließ, ob er die beschimpfenden Stimmen wirklich gehört oder halluziniert habe.
Er suchte auf allen Wegen der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Eines Tages fuhr er allein
auf einem Nachen auf einen großen See hinaus. Als er dort eine Stimme hörte, sagte er
sich: das muß eine Sinnestäuschung sein. Wenige Stunden später ans Land zurückgekehrt,
erklärte er trotzdem neue Phoneme als auf wirklichen Gehörseindrücken beruhend.
Dieser Arzt fällte auf dem See auf Grund eines bewußten Schlusses ein richtiges Rea-
litätsurteil über die Stimme, die darum gewiß nicht minder jenen Objektivitätscha-
rakter hatte, der sie immer noch wie jede Wahrnehmung von einer Vorstellung unter-
200 schied. Er fällte gleichzeitig das Urteil: es ist eine | Sinnestäuschung, womit er die
Genese jener Wahrnehmung durch Vorgänge in seinem Nervensystem erklärte.
Wegen der fundamentalen Wichtigkeit dieser Unterscheidungen, die es uns erst
erlauben, uns zurechtzufinden in den Lehren von den Trugwahrnehmungen, bringen
wir zur Verdeutlichung noch einmal ein Beispiel aus dem normalen Leben. Die Zoell-
nersche Täuschung524 (eine geometrisch-optische Täuschung, Abbildung z.B. in Wundts
Grundriß der Psychologie, S. 151)525 besteht darin, daß mehrere in Wirklichkeit parallele
Linien abwechselnd gegeneinander geneigt scheinen. Nehmen wir an, die Tapete eines
Zimmers sei ganz mit den Zoellnerschen Linien bedruckt. Wer ohne Kenntnis der Sache
in dem Zimmer wohnt, wird vielleicht wochenlang ein- und ausgehen, ohne je daran
zu denken, ob die Linien parallel seien oder nicht. Er erlebt den undifferenzierten Wirk-
lichkeitscharakter gegeneinander geneigter Linien. Man fragt ihn eines Tages, ob die
Linien geneigt seien oder parallel. Er antwortet sofort: natürlich geneigt. Das Erleben des
Wirklichkeitscharakters wird zum Erlebnis eines falschen Realitätsurteils. Durch einige
sondern erschlossen ist. - Es handelt sich um den Gegensatz eines wahrnehmenden und urteilen-
den »Meinens«.
ken wir, daß der Fleck entsprechend dieser Bewegung seinen Ort wechselt. Sofort fällen
wir das Urteil: der Fleck ist nicht wirklich. Der Kenner der Erscheinung urteilt dazu: das
ist ein Nachbild. Wir haben jetzt ein Realitätsurteil, und zwar ein richtiges Realitätsur-
teil gefällt. Was ist nun aus dem Nachbild geworden? Ist es anders geworden? Nein, es
hat den eigentümlich objektiven Charakter, der es von jeder noch so lebendigen Vor-
stellung unterscheidet, bewahrt, es steht dort im objektiven Raum leibhaftig an der
Wand, hat diese persönliche Gegenwärtigkeit, die ihm wie realen Wahrnehmungen
zukommt. Statt jener früheren selbstverständlichen Wirklichkeit eignet ihm nun eine
nicht so selbstverständliche Unwirklichkeit, die auf Grund eines im Bewußtsein entstan-
denen Urteils uns jetzt bewußt ist. Das, was beim Nachbild trotz der Verschiedenheit,
daß es einmal als real und nun als nicht real von uns beurteilt wird, gleich bleibt, nennen
wir den Objektivitätscharakter oder die Leibhaftigkeit.
Entsprechende Unterscheidungen können wir bei den echten Sinnestäuschungen
machen. Binswanger erzählt (Lehrbuch, S. 10)523 von einem paranoischen Arzte, der zu
Beginn der Erkrankung volle Besonnenheit wahrte und sich in lange Diskussionen dar-
über einließ, ob er die beschimpfenden Stimmen wirklich gehört oder halluziniert habe.
Er suchte auf allen Wegen der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Eines Tages fuhr er allein
auf einem Nachen auf einen großen See hinaus. Als er dort eine Stimme hörte, sagte er
sich: das muß eine Sinnestäuschung sein. Wenige Stunden später ans Land zurückgekehrt,
erklärte er trotzdem neue Phoneme als auf wirklichen Gehörseindrücken beruhend.
Dieser Arzt fällte auf dem See auf Grund eines bewußten Schlusses ein richtiges Rea-
litätsurteil über die Stimme, die darum gewiß nicht minder jenen Objektivitätscha-
rakter hatte, der sie immer noch wie jede Wahrnehmung von einer Vorstellung unter-
200 schied. Er fällte gleichzeitig das Urteil: es ist eine | Sinnestäuschung, womit er die
Genese jener Wahrnehmung durch Vorgänge in seinem Nervensystem erklärte.
Wegen der fundamentalen Wichtigkeit dieser Unterscheidungen, die es uns erst
erlauben, uns zurechtzufinden in den Lehren von den Trugwahrnehmungen, bringen
wir zur Verdeutlichung noch einmal ein Beispiel aus dem normalen Leben. Die Zoell-
nersche Täuschung524 (eine geometrisch-optische Täuschung, Abbildung z.B. in Wundts
Grundriß der Psychologie, S. 151)525 besteht darin, daß mehrere in Wirklichkeit parallele
Linien abwechselnd gegeneinander geneigt scheinen. Nehmen wir an, die Tapete eines
Zimmers sei ganz mit den Zoellnerschen Linien bedruckt. Wer ohne Kenntnis der Sache
in dem Zimmer wohnt, wird vielleicht wochenlang ein- und ausgehen, ohne je daran
zu denken, ob die Linien parallel seien oder nicht. Er erlebt den undifferenzierten Wirk-
lichkeitscharakter gegeneinander geneigter Linien. Man fragt ihn eines Tages, ob die
Linien geneigt seien oder parallel. Er antwortet sofort: natürlich geneigt. Das Erleben des
Wirklichkeitscharakters wird zum Erlebnis eines falschen Realitätsurteils. Durch einige
sondern erschlossen ist. - Es handelt sich um den Gegensatz eines wahrnehmenden und urteilen-
den »Meinens«.