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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0301
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258

Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

negatives Realitätsurteil gefällt wird. Auch das positive Realitätsurteil, das der Bedeu-
tung nach mit dem Wirklichkeitscharakter am Gegenstand des ursprünglichen Wahr-
nehmungserlebnisses zusammenfällt, müssen wir psychologisch von diesem trennen,
so gut wie das negative Realitätsurteil. Jenes Erleben des Wirklichkeitscharakters ver-
schwindet mit dem Urteil in seiner Eigenart, es wird bewußt, kompliziert, auf eine
andere Höhe gehoben, während der Objektivitätscharakter in allen Fällen gleich bleibt.
218 Im Traum, wo von Zweifel, von dem | Gegensatz wirklich - unwirklich selten die Rede
ist, werden nur Wirklichkeitscharaktere erlebt, nicht Realitätsurteile, ebenso in der
Fülle unserer gewöhnlichen ungeprüften Wahrnehmungen. Von »Wirklichkeitscha-
rakter« zu sprechen hat also nur Sinn auf gewissen niederen Stufen des Seelenlebens,
die entweder mit dem Bewußtseinszustand oder mit der Aufmerksamkeitsrichtung
Zusammenhängen. Der »Wirklichkeitscharakter« soll nur diesen Zustand der Undiffe-
renziertheit kennzeichnen. Der Bedeutung nach, die sich logisch hineininterpretieren
läßt, ist er ein Urteil, das wahr oder falsch ist. Deswegen kann er korrigiert werden und
damit als psychisches Erlebnis verschwinden. Das unterscheidet ihn vom Objektivi-
tätscharakter, der als ein außerlogisches weder wahres noch falsches Element immer
gleich bleibt und nicht korrigiert werden kann noch braucht.
Die beiden Richtungen verstehender Analyse, nämlich der Art der Urteile und ihrer
Herkunft, wenden wir bei allen Wahnideen, bei allen falschen Urteilen an, nicht nur
bei solchen, die auf Grund der Trugwahrnehmungen entstehen'. Wir wenden dies Ver-
stehen an, um zum Unverständlichen als den eigentlichen Elementarsymptomen zu kom-
men, wie z.B. zu den elementaren Wahnideen und hier zu den Trugwahrnehmungen.
Soweit wir auf den Wegen, die wir oben zusammengestellt haben, ohne Zuhilfenahme
weiterer »unverständlicher« Bedingungen die Ideen eines Kranken aus den Trugwahr-
nehmungen uns begreiflich machen können, gehören diese Ideen nicht zu den eigent-
lichen Krankheitserscheinungen. Vielmehr sind, wenn alle Wahnideen auf diese Weise
verständlich sind, die Trugwahrnehmungen das einzige Symptom. -
Sobald wir die falschen Realitätsurteile eines Kranken aus den Trugwahrnehmungen
auf die eben angedeuteten Weisen verstehen wollen, müssen wir vor allem wissen, wie
die Trugwahrnehmungen eigentlich beschaffen sind, wie sie auftreten, welchen Inhalt sie
haben. Es ist selbstverständlich, daß das Realitätsurteil von der Art der täuschenden Wahr-
nehmungserlebnisse abhängig ist. Diese müssen wir darum erst feststellen, wenn wir unse-
rerseits das Realitätsurteil der Kranken verstehen oder unverständlich finden wollen.
219 | Zunächst sind die echten Trugwahrnehmungen leibhaftig; nur die pathologischen
Vorstellungen, die Kandinsky als Pseudohalluzinationen beschrieb, und die von

i Wie das unvermittelte Wahrnehmungsurteil auf Leibhaftigkeit, stützt sich auch das übrige Den-
ken auf letzte Evidenzerlebnisse, die wir rational nicht weiter zurückverfolgen können. Diese letzte
Evidenz können wir entweder als auch für uns einsichtig verstehen, oder, wenn wir sie für falsch hal-
ten, vielleicht aus Milieu, Persönlichkeit einfühlend verstehen, oder müssen sie, wenn auch das
nicht möglich ist, als etwas Unverständliches ebenso wie die täuschende Leibhaftigkeit hinnehmen.
 
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