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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0300
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

257

Einen in mancher Beziehung entsprechenden Gegensatz finden wir auf der Stufe
der unvermittelten Realitätsurteile. Als objektive unvermittelte Reali|tätsurteile haben 217
wir diejenigen kennen gelernt, die auf Grund der Leibhaftigkeit von Wahrnehmun-
gen ohne weiteres die Wirklichkeit der Wahrnehmungsgegenstände aussprechen.
Demgegenüber entspringen unvermittelte Realitätsurteile in objektiv unbegründeter
Weise auch aus Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen. Eine Kranke',554 die alle ihre
Pseudohalluzinationen richtig beurteilt, erklärt die pseudohalluzinatorische Erschei-
nung ihres Gottes für bedeutsam und fühlt unvermittelt eine Realität, die sie in einem
Urteil zum Ausdruck bringt, während sie allen übrigen pseudohalluzinatorischen
Erscheinungen sachlich gegenübersteht. Es werden in solchen Fällen wohl nachher ver-
mittelte Realitätsurteile gefällt, allerhand Gründe, die objektiv sein sollen, herbeige-
holt. Aber das erste Realitätsurteil war doch unvermittelt und wird durch diese Kom-
plikation erst sekundär zu einem vermittelten.
Fassen wir die bisherigen Bemerkungen in einer schematischen Übersicht zusam-
men:
I. Undifferenzierter Zustand: Bloßer Wirklichkeitscharakter der Gegenstände.
II. Differenzierter Zustand: Ausdrückliche Urteile.
A. Unvermittelte Realitätsurteile
1. auf Grund der Leibhaftigkeit,
2. bedingt durch Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen.
B. Vermittelte Realitätsurteile
1. durch kritische Erwägungen auf der Basis von Erfahrung und logischer Evi-
denz,
2. durch Glauben der gelehrten und allgemein anerkannten Urteile.
Welche von diesen Arten von Realitätsurteilen auftreten, fanden wir abhängig:
1. von dem Kulturkreis, in dem das Individuum lebt,
2. von Intelligenz und Persönlichkeit,
3. von Bewußtseinszustand und Aufmerksamkeitsrichtung.
In dieser Übersicht fordert der Wirklichkeitscharakter, der z.B. bei der ersten unkor-
rigierten Wahrnehmung des Nachbildes diesem eignete, noch einige Bemerkungen.
Wenn man von Wirklichkeitscharakter spricht, liegt es nahe, ein Urteil, eine positive
Geltung gegenüber der Unwirklichkeit wie selbstverständlich darin zu finden. Wir sind
hier in Gefahr, nachträglich ein ausgesprochen logisches Erlebnis hineinzuinterpretie-
ren, indem wir von der objektiven Bedeutung dieses Erlebnisses sprechen. Dieses logi-
sche Erleben finden wir aber erst, nachdem, durch Zweifel angeregt, ein positives oder

Vgl. Frau Kraus S. 274. Vgl. außerdem hierzu den Fall Weber und unsere Bemerkungen betreffs der
»Überwertigkeit« von Illusionen S. 285.
 
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