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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0417
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Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie

Suchen wir durch diese Mittel dem Seelenleben der Kranken näher zu kommen, so
haben wir zunächst ein unübersehbares, dauernd fließendes Chaos immer wechselnder
Phänomene vor uns. Unser erstes Ziel muß sein, darin einzelnes zu begrenzen, es von
321 allen Seiten her für uns selbst zu dauerndem | Gebrauch und für andere zu vergegenwär-
tigen und mit einem konstant mit sich identisch zu brauchenden Namen zu versehen.
Die psychopathologischen Phänomene legen eine solche isolierende, von Zusammen-
hängen abstrahierende, phänomenologische Betrachtung, die nur das Gegebene verge-
genwärtigen, nicht genetisch verstehen, die nur sehen, nicht erklären will, sehr nahe.
Pathologischerweise treten zahlreiche seelische Phänomene ohne verständliche Bedin-
gungen auf, psychologisch angesehen aus dem Nichts, kausal angesehen durch den
Krankheitsvorgang verursacht. Lebhafte Erinnerungen an Dinge, die nie erlebt wurden,
Gedanken mit dem Bewußtsein ihrer Richtigkeit, ohne daß dieses Bewußtsein verständ-
lich begründet wäre (Wahnideen), Stimmungen und Affekte, die völlig spontan ohne
zugrunde liegende Erlebnisse oder Gedanken auftreten, und vieles andere sind häufige
Erscheinungen. Diese sind das Objekt phänomenologischer Untersuchung, die feststellt
und vergegenwärtigt, wie sie eigentlich sind. Drei Gruppen von Phänomenen sind auf
diese Weise zu gewinnen. Die einen sind von uns allen im eigenen Erleben gekannt. Sie sind
ebenso beschaffen wie die entsprechenden, normalerweise verständlich bedingten See-
lenvorgänge. Nur durch ihre Genese unterscheiden sich die im übrigen völlig gleichen
Phänomene der Kranken, z.B. viele Erinnerungsfälschungen. Die zweiten sind von uns
als Steigerungen, Herabsetzungen oder Mischungen selbsterlebter Phänomene zu erfassen, z.B.
die selige Ergriffenheit mancher akuter Psychosen, die Pseudohalluzinationen, die per-
versen Triebregungen. Wie weit hier unser verstehendes Vergegenwärtigen geht, auch
ohne die Grundlage eigener bewußter Erlebnisse ähnlicher Richtung, das ist eine nicht

telligente Kranke gute Selbstschilderungen liefern, würden sich Ärzte an Privatanstalten, die sol-
che leichter gewinnen können als Ärzte an öffentlichen Anstalten, die fast nur Kranke aus den
tieferen Volksschichten beobachten, das größte Verdienst erwerben, wenn sie der Öffentlichkeit
diese Schilderungen zugänglich machten. Es gilt wohl noch vielfach als unzulänglich und min-
derwertig, einen »Fall« zu veröffentlichen, und es bedarf des Hinweises auf den außerordentlich
großen Wert der Selbstschilderungen, damit es mehr als bisher üblich wird, solche zu sammeln
und zu verwerten. Ich möchte die Bitte aussprechen, daß Leser dieser Zeilen, die im Besitze guter
Selbstschilderungen sind - d.h. solcher, die wirklich erlebte seelische Phänomene anschaulich
vor Augen führen -, diese doch veröffentlichen, oder, falls sie sich dazu nicht entschließen mö-
gen, sie mir zur Einsicht und eventuellen Verwertung zu überlassen. Für in dieser Hinsicht inter-
essierte Leser führe ich einige der besten bisher veröffentlichten Selbstschilderungen auf. Es sind
nicht viele: Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Leipzig 1903. - Th. de Quincey,
Bekenntnisse eines Opiumessers, deutsch, Stuttgart 1886. - Gerard de Nerval, Aurelia, deutsch,
München 1910 (allerdings literarisch geformt). -J. J. David, Halluzinationen, Die neue Rundschau
17, 874. - Wollny, Erklärungen der Tollheit von Haslam, Leipzig 1889. - Kandinsky, Zur Lehre
von den Halluzinationen, Archiv f. Psych. n, 453. - Die Kranken von Forel, Archiv f. Psych. 34,
960. - Klinke, Jahrb. f. Psych. 9. - Kieser, Allgem. Zeitschr. f. Psych. 10, 423. - Engelken, ebenda
6, 586. - Meinert, Alkoholwahnsinnig, Dresden 1907.
 
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