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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0504
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

461

Suchen wir uns nun die Weisen, wie dem Kranken die Inhalte seines Erlebens gegeben
waren, zu vergegenwärtigen, so können wir zunächst negativ feststellen: Trugwahrneh-
mungen - weder Halluzinationen noch Illusionen - spielen keine große Rolle. Die vor-
gekommenen Stimmen, optischen, Geruchs- und Geschmackshalluzinationen resp.
Illusionen sind in der Krankengeschichte S. 451 ff. aufgezählt. Die größte Rolle schei-
nen noch Körperempfindungen gespielt zu haben, die immer in einer bestimmten
Beziehung zu übersinnlichem Geschehen erlebt wurden.
Die Wahrnehmung der realen Gegenstände war als solche intakt: keine Intensitäts-
veränderungen, gewöhnlich keine Tendenz zu illusionärer Umgestaltung, dagegen
immer die Neigung zum Erleben irrealer Bedeutungen.
Eigentliche Pseudohalluzinationen, detaillierte, anschauliche, ohne oder gegen den
Willen kommende Vorstellungsbilder, sind nach den Angaben des Kranken auch nicht
vorgekommen.
Wenn nun weder Trugwahrnehmungen, noch Wahrnehmungsveränderungen,
noch Pseudohalluzinationen das übersinnliche psychotische Erleben im Bewußtsein
des Kranken repräsentierten, wodurch wurde es dann repräsentiert? a) Durch den
Bedeutungswahn, b) durch die verschiedenen Arten evidenter, wenig oder gar nicht
anschaulicher Bewußtheiten.
a) Im Beginn der akuten Psychose tritt im Erleben des Kranken eine besondere Art
des Beziehungswahns, die wir Bedeutungswahn nennen möchten, auf. Beziehungswahn
nennt man alle diejenigen unmittelbaren Wahnerlebnisse, in denen äußere Vorgänge
fälschlicherweise in einer Beziehung zur Person des Kranken gedacht werden, z.B.
wenn ein Paranoiker von sich unterhaltenden Menschen sofort weiß, sie reden über
ihn, wenn er weiß, ein Lächeln, eine Geste gelte ihmusw. Während hier der Inhalt des
Wahns durchaus klar ist, gibt es eine Art von Wahnerleben, in dem den Gegenständen
eine Bedeutung, eine unheimliche, grauenerregende oder eine überirdische, übersinnliche
Bedeutung, jedenfalls keine durchaus klare, sondern rätselhafte Bedeutung unmittel-
bar anhaftet. Die Gegenstände und Vorgänge bedeuten, aber bedeuten nicht etwas
Bestimmtes, begrifflich Formulierbares. Selten ist der Bedeutungswahn rein objektiv,
sondern meist hat die Person des Kranken selbst eine Rolle dabei. Die Bedeutungen
beziehen sich meist in rätselhafter Weise auf sie. Immer wachsen aus diesem Bedeu-
tungswahn alsbald einzelne bestimmte Inhalte, ein klarer Beziehungswahn heraus. Für
unsern Kranken ist die Welt unheimlich, dann wunderbar, als ob das goldene Zeital-
ter sei, die Musik ist merkwürdig bedeutungsvoll, die Menschen wissen alle etwas, mei-
nen etwas, über das der Kranke im Sinne seiner Idee vom Anbruch des goldenen Zeit-
alters nachdenkt, ohne zur Klarheit zu kommen. Es treten dann weiter dabei einfacher
Beziehungswahn, klare Anspielungen und dergleichen auf.
Um den Bedeutungswahn, den wir für eine phänomenologisch sehr charakteristi-
sche und elementare seelische Erlebnisweise halten müssen, recht anschaulich zu
machen setzen wir zum Vergleich einen Fall mit ausgeprägtem Bedeutungswahn im
 
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