Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0505
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
4Ö2

Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

397 Sinne des Unheimlichen und der Verfolgung her. Er zeigt | phänomenologisch in der hier
gemeinten Richtung dasselbe wie unser Kranker. Sonst ist er gänzlich unterschieden.
Es handelt sich um einen Prozeß, bei dem reaktive Momente überhaupt nicht erkenn-
bar waren, es handelt sich um Bedeutungswahn mit dem Inhalt in der Richtung der
Verfolgung, während bei unserem Kranken der Inhalt in der Richtung der Weltverän-
derung zum goldenen Zeitalter liegt. (Die wichtigsten Stellen sind kursiv gedruckt.)
Jakob Veit, geb. 1880, ledig. Sehr begabtes Kind. Tüchtiger Kaufmann, zuletzt in New York.
Früher nie krank, aber immer nervös, besonders im heißen Sommer.
Im Sommer 1907 bemerkte seine Umgebung, daß er anders wurde, merkwürdige Sachen
redete. Ende September zertrümmerte er plötzlich seine ganze Zimmereinrichtung, wurde mit
Gewalt ins Krankenhaus gebracht, wo er wegen Erregung mit Wickel behandelt wurde. Bald
wurde er nach Deutschland transportiert. Am 12. Dezember wurde er in die Heidelberger Klinik
gebracht, war völlig orientiert, aber ablehnend und unzugänglich. Er grimassierte, machte
Faxen, nahm katatonische Stellungen ein, schrie mit lauter Stimme unartikulierte Silben. Plötz-
lich brach er in heftiges Lachen aus, schaute dann wieder vor sich hin, biß in die Kissen, schlug
mit der Faust aufs Bein usw. Dabei war er immer fixierbar und gab meistens Antworten, aber in
witzelnder, vorbeiredender Weise. (Krank?) »Das ist mir ganz schnuppe« (Verwirrt?) »Soviel ich
weiß, ja.« (Seit wann krank?) »Zeitlebens krank.« (Seit wann schlimmer?) »Es gibt kein Schlim-
mer und gibt kein Besser. Es gibt nur ein Gut. Es gibt nur einen Gott.« (Wer der Arzt sei?)
»Mignon.«910 Einmal wurde sein Zustand kurze Zeit durch ein mehr depressives Bild unterbro-
chen: Finstere Miene, wendet sich bei Annäherung unwillig ab, verbittet sich jede Berührung
und jede Frage: »Ich beantworte keine Frage, Sie fragen 1000 mal dasselbe.« Manchmal ein
brummender Laut.
Ende Januar wurde der Kranke zugänglich und völlig geordnet. Er gab jetzt gern und einge-
hend Auskunft, bot keine abnormen Züge, nur hatte er gar keine Einsicht, daß er krank gewe-
sen sei. Er erzählte jetzt seine Erlebnisse:
»Am 28. September 1907 kam eine Ambulanz-Chaise an meiner Wohnung vorgefahren und
ohne irgendwelchen Grund nahmen mich 4-5 Männer mit Gewalt fort und brachten mich
gebunden auf den Krankenwagen.« Dieser »Gewaltstreich« ist ihm jetzt so rätselhaft wie damals.
»Möglicherweise« hat Isaak Rosenberg seine Hand im Spiele. Die Sache habe sich etwa so ent-
wickelt: Am Tage vorher (27. September) war er morgens im Cafe. Der Kellner war ein großer star-
ker Mann, der hupfte schnell und unheimlich an ihm vorbei und schüttete ihm etwas Kali in den
Kaffee. Deswegen ließ er den Kaffee stehen. Dann ging er ins Geschäft und arbeitete bis zum
Abend. Vom Geschäft fuhr er, ohne zu Nacht gegessen zu haben, zu Rosenberg. Diesem wollte
er einen geliehenen Schirm zurückbringen und ihn etwas fragen. Im Geschäft war nämlich ein
Diebstahl vorgekommen, und der Kranke habe den Schlosser verdächtigt. Denn der Schlosser
habe sich so seltsam benommen: »erschien mir nicht geheuer«. Dies hatte er dem Rosenberg erzählt.
Der habe aber so eigentümlich geantwortet. Dann habe er dem Rosenberg erzählt, seit dem 9. habe
er keinen Brief von zu Hause, er sei so unruhig gewesen und wolle telegraphieren. Darauf sagte
R. mit so eigentümlichen Handbewegungen, er solle doch lieber noch etwas warten. Kurz und gut,
der Rosenberg benahm sich seltsam. Wegen alles dessen wollte er nun den R. fragen.
Er fuhr mit der Stadtbahn hin, klingelte bei R. Eine fremde junge Dame machte auf: Herr und
Frau R. seien nicht zu Hause. Er beschloß unten auf der Straße zu warten. Da war alles so selt-
sam. Es fuhren so viele Wagen vor dem Hause vor und es wurden zahlreiche Koffer abgeladen und
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften