XVI
Einleitung des Herausgebers
Gefolge von Friedrich Albert Lange und Lotze entstandenen Neukantianismus war es
vor allem die sogenannte »Südwestdeutsche Schule«, die sich dezidiert mit der Wert-
und Weltanschauungsfrage auseinander setzte. Als Hauptrepräsentanten der soge-
nannten »Wertphilosophie« gelten der 1903 nach Heidelberg berufene Wilhelm Win-
delband und sein Schüler Heinrich Rickert, der 1915 dessen Nachfolge antrat - beides
Figuren, die im Falle des Ersteren als Habilitationsgutachter, im Falle des Zweiteren als
philosophischer Antipode für Jaspers’ Werdegang von erheblicher Bedeutung waren
und Jaspers’ Eindruck einer depravierten Professorenphilosophie nachhaltig geprägt
haben.
Dabei schien die Wertphilosophie der Südwestdeutschen Schule gleich in zwei-
erlei Hinsicht eine gewisse Zeitgemäßheit zu verkörpern. Nach dem Verlust der Vor-
machtstellung der Philosophie durch die Erfolge der Naturwissenschaften war seit
Mitte des 19. Jahrhunderts aus methodischen Rechtfertigungsnotwendigkeiten der
Spezialwissenschaften heraus ein erneutes Interesse insbesondere an erkenntnis-
theoretischen Fragestellungen erwachsen,49 dem sich der Neukantianismus - nicht
ohne Hoffnung, die Philosophie auf diesem Wege als akademische Königsdisziplin
rehabilitieren zu können - dankbar annahm. Gleichzeitig sah sich der Neukantia-
nismus mit der Weltanschauungsfrage konfrontiert. So schreibt Wilhelm Windel-
band in seinen Präludien: »Durch gewaltige Geschicke und mächtige Umwälzungen
des öffentlichen Lebens im Tiefsten aufgeregt, von fieberhaftem Bedürfnis nach neuer
Selbstgestaltung ergriffen, verlangte die Volksseele nach dem bestimmten und bestim-
menden Ausdruck dessen, was sie bewegt [...], erheischte siegebieterisch von der Phi-
losophie das, ohne das noch keine Zeit zu schöpferischer Gestaltung gelangt ist, eine
Weltanschauung.«50 In Übernahme dieser Aufgabe begreift Windelband die Philo-
sophie als »Wissenschaft der Weltanschauung«, die sich dem Bedürfnis eines um-
fassenden und fundierten Ausbaus der Erkenntnis ebenso zu stellen habe wie einer
darauf zu gründenden »Ueberzeugung, die den inneren Halt im Leben zu gewähren
vermag«.51
Als Weltanschauungslehre sollte die Philosophie Klarheit über den Sinn des Lebens
vermitteln, und zwar, indem sie die Werte zu Bewusstsein bringen sollte, die ihm Sinn
verleihen.52 Damit war der Philosophie auch die allgemeinere Aufgabe der Bekämp-
fung eines in der Moderne um sich greifenden Wertnihilismus übertragen,53 die sie als
49 Vgl. A. Faust: Heinrich Rickert und seine Stellung innerhalb der deutschen Philosophie der Gegenwart,
Tübingen 1927,1; H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, Stuttgart 1979,3-4.
50 W. Windelband: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie, Bd. 1, vierte, ver-
mehrte Auflage, Tübingen 1911,149.
51 Ders.: Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1914,19.
52 Vgl. H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, 28.
53 Vgl. ebd.,29.
Einleitung des Herausgebers
Gefolge von Friedrich Albert Lange und Lotze entstandenen Neukantianismus war es
vor allem die sogenannte »Südwestdeutsche Schule«, die sich dezidiert mit der Wert-
und Weltanschauungsfrage auseinander setzte. Als Hauptrepräsentanten der soge-
nannten »Wertphilosophie« gelten der 1903 nach Heidelberg berufene Wilhelm Win-
delband und sein Schüler Heinrich Rickert, der 1915 dessen Nachfolge antrat - beides
Figuren, die im Falle des Ersteren als Habilitationsgutachter, im Falle des Zweiteren als
philosophischer Antipode für Jaspers’ Werdegang von erheblicher Bedeutung waren
und Jaspers’ Eindruck einer depravierten Professorenphilosophie nachhaltig geprägt
haben.
Dabei schien die Wertphilosophie der Südwestdeutschen Schule gleich in zwei-
erlei Hinsicht eine gewisse Zeitgemäßheit zu verkörpern. Nach dem Verlust der Vor-
machtstellung der Philosophie durch die Erfolge der Naturwissenschaften war seit
Mitte des 19. Jahrhunderts aus methodischen Rechtfertigungsnotwendigkeiten der
Spezialwissenschaften heraus ein erneutes Interesse insbesondere an erkenntnis-
theoretischen Fragestellungen erwachsen,49 dem sich der Neukantianismus - nicht
ohne Hoffnung, die Philosophie auf diesem Wege als akademische Königsdisziplin
rehabilitieren zu können - dankbar annahm. Gleichzeitig sah sich der Neukantia-
nismus mit der Weltanschauungsfrage konfrontiert. So schreibt Wilhelm Windel-
band in seinen Präludien: »Durch gewaltige Geschicke und mächtige Umwälzungen
des öffentlichen Lebens im Tiefsten aufgeregt, von fieberhaftem Bedürfnis nach neuer
Selbstgestaltung ergriffen, verlangte die Volksseele nach dem bestimmten und bestim-
menden Ausdruck dessen, was sie bewegt [...], erheischte siegebieterisch von der Phi-
losophie das, ohne das noch keine Zeit zu schöpferischer Gestaltung gelangt ist, eine
Weltanschauung.«50 In Übernahme dieser Aufgabe begreift Windelband die Philo-
sophie als »Wissenschaft der Weltanschauung«, die sich dem Bedürfnis eines um-
fassenden und fundierten Ausbaus der Erkenntnis ebenso zu stellen habe wie einer
darauf zu gründenden »Ueberzeugung, die den inneren Halt im Leben zu gewähren
vermag«.51
Als Weltanschauungslehre sollte die Philosophie Klarheit über den Sinn des Lebens
vermitteln, und zwar, indem sie die Werte zu Bewusstsein bringen sollte, die ihm Sinn
verleihen.52 Damit war der Philosophie auch die allgemeinere Aufgabe der Bekämp-
fung eines in der Moderne um sich greifenden Wertnihilismus übertragen,53 die sie als
49 Vgl. A. Faust: Heinrich Rickert und seine Stellung innerhalb der deutschen Philosophie der Gegenwart,
Tübingen 1927,1; H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, Stuttgart 1979,3-4.
50 W. Windelband: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie, Bd. 1, vierte, ver-
mehrte Auflage, Tübingen 1911,149.
51 Ders.: Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1914,19.
52 Vgl. H.-L. Ollig: Der Neukantianismus, 28.
53 Vgl. ebd.,29.