XXIV
Einleitung des Herausgebers
Es war ein hochschulpolitisch recht unscheinbarer Vorgang, der Jaspers’ Karriere an
der Philosophischen Fakultät einleitete. Bereits im Februar 1913 hatte der Studenten-
ausschuss beim Engeren Senat der Universität Heidelberg einen Antrag zur Einrich-
tung eines psychologischen Lehrstuhls eingereicht.95 Obwohl an der Philosophischen
Fakultät Wilhelm Windelband und Hans Driesch die ministeriell verordneten, für die
Examinierung von Gymnasiallehrern notwendigen Psychologie-Vorlesungen und Prü-
fungen bestritten,96 zeigten sich die Studierenden mit den Inhalten unzufrieden. Sie
wollten mit den neuesten Entwicklungen der Psychologie einschließlich des Bereichs
der experimentellen Psychologie vertraut gemacht werden.97 Um diesem Wunsch ge-
recht zu werden, wurde ein Ausschuss gebildet, dem neben Max Weber der klassische
Philologe Franz Boll, der Historiker Hermann Oncken und Wilhelm Windelband ange-
hörten.98 99 Als aussichtsreichste Kandidaten für die Stelle, die auf Drängen Alfred Webers
auch die Pädagogik umfassen sollte, galten anfänglich der frisch für Psychiatrie und
medizinische Psychologie habilitierte Hans Walter Gruhle" und der Pädagoge, Philo-
soph und Psychologe Paul Häberlin. Während Letzterer mutmaßlich wegen seiner Nei-
gungen zur Philosophie und seiner Unerfahrenheit im Bereich der experimentellen
Psychologie aussortiert wurde,100 war Gruhle zwar aufgrund seiner Forschungen ein
attraktiver Kandidat, seine medizinische venia berechtigte ihn aber nicht dazu, die für
das Gymnasiallehrerstaatsexamen zwingenden Prüfungen für Psychologie an der Phi-
losophischen Fakultät abzunehmen.101 An dieser Stelle kam Gruhles Freund Jaspers ins
Spiel. Da Jaspers wegen seiner Krankheit eine Karriere als praktizierender Arzt verstellt
war und sich an der Medizinischen Fakultät bereits vier andere Kandidaten habilitiert
hatten, sodass weder Anlass noch Aussichten für eine weitere Habilitation bestanden,102
gab Gruhle Jaspers den Rat, den Dr. phil. anzustreben, Kontakt mit Max Weber aufzu-
95 Vgl.: »Acten der Philosophischen Facultät 1913-14«, UAH, III, 5a, 171 / H-IV-102/140; vgl. hierzu
auch: H. Gundlach: Wilhelm Windelband, 327-328,365.
96 Vgl. ebd.,325, 447.
97 Ebd., 425.
98 Ebd., 329-330.
99 Mit Gruhle pflegte Jaspers insbesondere in seinen ersten Jahren an der Heidelberger Psychiatri-
schen Klinik eine enge Freundschaft und schätze ihn als Gesprächspartner. Am 10. Januar 1911
schreibt Jaspers an den Vater: »Er ist der einzige Psychiater, der, obgleich er selbst sehr viel versteht,
wirklich Vertrauen zu mir hat«. Ab 1912 offenbarten sich immer stärkere inhaltliche Differenzen,
die zeitweise auch die persönliche Nähe trübten. Dennoch blieb der Kontakt mit Gruhle bis zu
dessen Tod 1958 bestehen (vgl. hierzu: K. Jaspers: Korrespondenzen 1,16, 95-178).
100 Vgl. H. Gundlach: Wilhelm Windelband, 366,392.
101 Ebd., 339.
102 In seiner Philosophischen Autobiographie bekennt Jaspers später, er habe mit Nissl das Vorhaben
besprochen, angesichts der vielen Habilitationen an der Medizinischen Fakultät an der philoso-
phischen zu habilitieren und später im Falle eines Weggangs habilitierter Psychologen aus der
Medizinischen Fakultät dorthin zurückzukehren (vgl. ebd., 29).
Einleitung des Herausgebers
Es war ein hochschulpolitisch recht unscheinbarer Vorgang, der Jaspers’ Karriere an
der Philosophischen Fakultät einleitete. Bereits im Februar 1913 hatte der Studenten-
ausschuss beim Engeren Senat der Universität Heidelberg einen Antrag zur Einrich-
tung eines psychologischen Lehrstuhls eingereicht.95 Obwohl an der Philosophischen
Fakultät Wilhelm Windelband und Hans Driesch die ministeriell verordneten, für die
Examinierung von Gymnasiallehrern notwendigen Psychologie-Vorlesungen und Prü-
fungen bestritten,96 zeigten sich die Studierenden mit den Inhalten unzufrieden. Sie
wollten mit den neuesten Entwicklungen der Psychologie einschließlich des Bereichs
der experimentellen Psychologie vertraut gemacht werden.97 Um diesem Wunsch ge-
recht zu werden, wurde ein Ausschuss gebildet, dem neben Max Weber der klassische
Philologe Franz Boll, der Historiker Hermann Oncken und Wilhelm Windelband ange-
hörten.98 99 Als aussichtsreichste Kandidaten für die Stelle, die auf Drängen Alfred Webers
auch die Pädagogik umfassen sollte, galten anfänglich der frisch für Psychiatrie und
medizinische Psychologie habilitierte Hans Walter Gruhle" und der Pädagoge, Philo-
soph und Psychologe Paul Häberlin. Während Letzterer mutmaßlich wegen seiner Nei-
gungen zur Philosophie und seiner Unerfahrenheit im Bereich der experimentellen
Psychologie aussortiert wurde,100 war Gruhle zwar aufgrund seiner Forschungen ein
attraktiver Kandidat, seine medizinische venia berechtigte ihn aber nicht dazu, die für
das Gymnasiallehrerstaatsexamen zwingenden Prüfungen für Psychologie an der Phi-
losophischen Fakultät abzunehmen.101 An dieser Stelle kam Gruhles Freund Jaspers ins
Spiel. Da Jaspers wegen seiner Krankheit eine Karriere als praktizierender Arzt verstellt
war und sich an der Medizinischen Fakultät bereits vier andere Kandidaten habilitiert
hatten, sodass weder Anlass noch Aussichten für eine weitere Habilitation bestanden,102
gab Gruhle Jaspers den Rat, den Dr. phil. anzustreben, Kontakt mit Max Weber aufzu-
95 Vgl.: »Acten der Philosophischen Facultät 1913-14«, UAH, III, 5a, 171 / H-IV-102/140; vgl. hierzu
auch: H. Gundlach: Wilhelm Windelband, 327-328,365.
96 Vgl. ebd.,325, 447.
97 Ebd., 425.
98 Ebd., 329-330.
99 Mit Gruhle pflegte Jaspers insbesondere in seinen ersten Jahren an der Heidelberger Psychiatri-
schen Klinik eine enge Freundschaft und schätze ihn als Gesprächspartner. Am 10. Januar 1911
schreibt Jaspers an den Vater: »Er ist der einzige Psychiater, der, obgleich er selbst sehr viel versteht,
wirklich Vertrauen zu mir hat«. Ab 1912 offenbarten sich immer stärkere inhaltliche Differenzen,
die zeitweise auch die persönliche Nähe trübten. Dennoch blieb der Kontakt mit Gruhle bis zu
dessen Tod 1958 bestehen (vgl. hierzu: K. Jaspers: Korrespondenzen 1,16, 95-178).
100 Vgl. H. Gundlach: Wilhelm Windelband, 366,392.
101 Ebd., 339.
102 In seiner Philosophischen Autobiographie bekennt Jaspers später, er habe mit Nissl das Vorhaben
besprochen, angesichts der vielen Habilitationen an der Medizinischen Fakultät an der philoso-
phischen zu habilitieren und später im Falle eines Weggangs habilitierter Psychologen aus der
Medizinischen Fakultät dorthin zurückzukehren (vgl. ebd., 29).