Einleitung des Herausgebers
LXIII
logie Husserls als »strenge Wissenschaft« missverstand, wurde der junge Heidegger für
Jaspers der einzige Zeitgenosse in der Philosophenzunft, den er schätzte und mit dem
er eine »gemeinsame Opposition gegen die traditionelle Professorenphilosophie«
spürte.* * 326
Die »Kampfgemeinschaft«, mit der Heidegger ihr Verhältnis in einem Brief vom 27.
Juni 1922 bezeichnete,327 verdankte ihre Verbindlichkeit maßgeblich der Psychologie der
Weltanschauungen, auf die Heidegger vermutlich im Zusammenhang mit seiner 1919
gehaltenen Vorlesung »Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem«328
aufmerksam geworden war. Eine offene Aussprache der beiden wichtigsten Vertreter
der späteren Existenzphilosophie über das bereits in vielen Punkten um die Grundfra-
gen der menschlichen Existenz kreisende und von Heidegger als »Neubeginn«329 gewür-
digte Werk hätte reichen Aufschluss über die Quellen des existenzphilosophischen
Denkens versprochen. Allein: Jaspers hatte kein Interesse, tat sich zu schwer mit Hei-
deggers sperriger Diktion. So bekennt er später: »In einem wesentlichen Punkte ver-
sagte ich gleich in den ersten Jahren. [...] Er gab mir das Manuskript dieser Kritik. Sie
schien mir ungerecht; ich las sie flüchtig, sie wurde in mir nicht fruchtbar. Ich ging
andere Wege, als er sie vorschlug. Aber ich hatte auch nicht die Lust, mich auf diese
Kritik einzulassen, mich mit ihr auseinanderzusetzen und in einer Diskussion zur Klar-
heit zu bringen, worin die Fremdheit des Wollens und Fragens und Forderns bestand.«330
Wirft man allerdings einen genaueren Blick auf die Entwicklung seines Denkens,
so scheinen Zweifel angebracht, ob Jaspers wirklich so »andere Wege« ging, als sie
Heideggers Kritik vorschlug. Zumal von Jaspers auch ganz andere Töne zu hören wa-
ren. So in einem Brief vom 1. August 1921, in dem Jaspers Heidegger mitteilt, er habe
seine Kritik »genau gelesen«, sie habe ihn »innerlich wirklich berührt«, sie sei über-
haupt diejenige Besprechung, die »der Wurzel der Gedanken am tiefsten nachgräbt«,
und er wolle gern mit ihm darüber sprechen.331 Selbst wenn man versucht sein sollte,
die zweite Aussage gegenüber Heidegger mehr für Fassade zu halten denn als ehrliche
Bekundung, bleibt doch die Frage, wie Jaspers mit einer solchen Ankündigung ohne
detaillierte Kenntnis der Kritikpunkte in den anstehenden Besuch Heideggers hätte
gehen sollen? Und anders herum: Würden die Besuche von Heidegger bei Jaspers in
den Folgejahren so regelmäßig stattgefunden haben, ja würde Heidegger in Reaktion auf
die Zusendung des Büchleins Strindberg und van Gogh kaum ein Jahr später ihre Bezie-
Martin Heidegger«, in: T. Jung, S. Müller-Doohm (Hg.): Prekäre Freundschaften. Über geistige Nähe
und Distanz, München 2011,121-143.
326 Vgl. K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 94.
327 M. Heidegger, K. Jaspers: Briefwechsel, 29.
328 M. Heidegger: »Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem«, GA 56/57,1-120.
329 K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 95.
330 Ebd.
331 K. Jaspers an M. Heidegger, 1. August 1921, in: M. Heidegger, K. Jaspers: Briefwechsel, 23.
LXIII
logie Husserls als »strenge Wissenschaft« missverstand, wurde der junge Heidegger für
Jaspers der einzige Zeitgenosse in der Philosophenzunft, den er schätzte und mit dem
er eine »gemeinsame Opposition gegen die traditionelle Professorenphilosophie«
spürte.* * 326
Die »Kampfgemeinschaft«, mit der Heidegger ihr Verhältnis in einem Brief vom 27.
Juni 1922 bezeichnete,327 verdankte ihre Verbindlichkeit maßgeblich der Psychologie der
Weltanschauungen, auf die Heidegger vermutlich im Zusammenhang mit seiner 1919
gehaltenen Vorlesung »Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem«328
aufmerksam geworden war. Eine offene Aussprache der beiden wichtigsten Vertreter
der späteren Existenzphilosophie über das bereits in vielen Punkten um die Grundfra-
gen der menschlichen Existenz kreisende und von Heidegger als »Neubeginn«329 gewür-
digte Werk hätte reichen Aufschluss über die Quellen des existenzphilosophischen
Denkens versprochen. Allein: Jaspers hatte kein Interesse, tat sich zu schwer mit Hei-
deggers sperriger Diktion. So bekennt er später: »In einem wesentlichen Punkte ver-
sagte ich gleich in den ersten Jahren. [...] Er gab mir das Manuskript dieser Kritik. Sie
schien mir ungerecht; ich las sie flüchtig, sie wurde in mir nicht fruchtbar. Ich ging
andere Wege, als er sie vorschlug. Aber ich hatte auch nicht die Lust, mich auf diese
Kritik einzulassen, mich mit ihr auseinanderzusetzen und in einer Diskussion zur Klar-
heit zu bringen, worin die Fremdheit des Wollens und Fragens und Forderns bestand.«330
Wirft man allerdings einen genaueren Blick auf die Entwicklung seines Denkens,
so scheinen Zweifel angebracht, ob Jaspers wirklich so »andere Wege« ging, als sie
Heideggers Kritik vorschlug. Zumal von Jaspers auch ganz andere Töne zu hören wa-
ren. So in einem Brief vom 1. August 1921, in dem Jaspers Heidegger mitteilt, er habe
seine Kritik »genau gelesen«, sie habe ihn »innerlich wirklich berührt«, sie sei über-
haupt diejenige Besprechung, die »der Wurzel der Gedanken am tiefsten nachgräbt«,
und er wolle gern mit ihm darüber sprechen.331 Selbst wenn man versucht sein sollte,
die zweite Aussage gegenüber Heidegger mehr für Fassade zu halten denn als ehrliche
Bekundung, bleibt doch die Frage, wie Jaspers mit einer solchen Ankündigung ohne
detaillierte Kenntnis der Kritikpunkte in den anstehenden Besuch Heideggers hätte
gehen sollen? Und anders herum: Würden die Besuche von Heidegger bei Jaspers in
den Folgejahren so regelmäßig stattgefunden haben, ja würde Heidegger in Reaktion auf
die Zusendung des Büchleins Strindberg und van Gogh kaum ein Jahr später ihre Bezie-
Martin Heidegger«, in: T. Jung, S. Müller-Doohm (Hg.): Prekäre Freundschaften. Über geistige Nähe
und Distanz, München 2011,121-143.
326 Vgl. K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 94.
327 M. Heidegger, K. Jaspers: Briefwechsel, 29.
328 M. Heidegger: »Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem«, GA 56/57,1-120.
329 K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 95.
330 Ebd.
331 K. Jaspers an M. Heidegger, 1. August 1921, in: M. Heidegger, K. Jaspers: Briefwechsel, 23.