LXIV
Einleitung des Herausgebers
hung dann als eine »seltene und eigenständige Kampfgemeinschaft« beschwärmt ha-
ben? Und schließlich: Hätte Heidegger Jaspers wohl 1922 im Vertrauen erste Vorstufen
von Sein und Zeit vorgetragen,332 wenn dieser nicht in den Gesprächen auf Heideggers
akribische Auseinandersetzung mit seinem ersten »philosophischen« Buch eingegan-
gen wäre?
Der Verdacht, dass Heideggers Kritik Jaspers’ Denkweg nachhaltig beeinflusst hat,
erscheint bei näherem Hinsehen nicht nur begründeter als lange gedacht, sondern
wird durch einen später verworfenen Entwurf für das Vorwort zur Philosophie aus dem
Nachlass erhärtet, in dem Jaspers schreibt: »Martin Heidegger verdanke ich eine Kri-
tik meiner »Psychologie der Weltanschauungem. Er legte den Accent in einer Weise,
dass ich den Weg des Weitergehens entschiedener einhielt. Sein eigenes Denken er-
munterte mich durch das Faktum, dass der Fachgenosse in Befragung der Existenz
philosophiert.«333
19. Heideggers Kritik
Heidegger sieht in Jaspers’ Buch von Beginn an weniger ein psychologisches als viel-
mehr ein philosophisches Werk, was sich u.a. darin zeigt, dass er seine Kritik dezidiert
als »philosophische Kritik« verstanden wissen will, der es um das »Prinzipielle« geht.334
Als das der Psychologie der Weltanschauungen zugrunde liegende »eigentlich Gegen-
ständliche« erfasst Heidegger nicht etwa die Weltanschauungen, sondern die Existenz,
verstanden als das Phänomen des »ich bin«. Da das Bewusstsein der Existenz gerade
durch das Bewusstsein der antinomischen Situation des Menschseins aufgehe, falle
von den Grenzsituationen Licht auf das lebendige Dasein. In der kritischen Analyse
der Grenzsituationen, dem für ihn »stärksten Abschnitt der Jaspers’schen Untersu-
chung«, sieht er den »das Ganze der Arbeit verfestigenden Kern«.335
Entscheidend ist für Heidegger die Erfahrung, »daß ich mich habe, die Grunder-
fahrung, in der ich mir selbst als Selbst begegne, so daß ich, in diesem Erfahren lebend,
seinem Sinn entsprechend fragen kann nach dem Wie meines »ich bin<.«336 Daraus er-
gibt sich für die philosophische Reflexion eine weitreichende hermeneutische Schwie-
rigkeit, nämlich dass die Grunderfahrung des »Mich-selbst-habens nicht ohne weite-
res verfügbar« ist und deshalb »der Erfahrungsvollzug in der vollen Konkretion des
>ich< seinen Ursprung nehmen und auf dieses in einem bestimmten Wie zurückzielen«
muss. Diese Erfahrung ist für Heidegger nicht eine »immanente Wahrnehmung in
332 K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 98.
333 DLA, A: Jaspers.
334 M. Heidegger: »Anmerkungen«, 2 (hier und im Folgenden zitiert nach M. Heidegger: GA 9).
335 Ebd.,11.
336 Ebd., 29.
Einleitung des Herausgebers
hung dann als eine »seltene und eigenständige Kampfgemeinschaft« beschwärmt ha-
ben? Und schließlich: Hätte Heidegger Jaspers wohl 1922 im Vertrauen erste Vorstufen
von Sein und Zeit vorgetragen,332 wenn dieser nicht in den Gesprächen auf Heideggers
akribische Auseinandersetzung mit seinem ersten »philosophischen« Buch eingegan-
gen wäre?
Der Verdacht, dass Heideggers Kritik Jaspers’ Denkweg nachhaltig beeinflusst hat,
erscheint bei näherem Hinsehen nicht nur begründeter als lange gedacht, sondern
wird durch einen später verworfenen Entwurf für das Vorwort zur Philosophie aus dem
Nachlass erhärtet, in dem Jaspers schreibt: »Martin Heidegger verdanke ich eine Kri-
tik meiner »Psychologie der Weltanschauungem. Er legte den Accent in einer Weise,
dass ich den Weg des Weitergehens entschiedener einhielt. Sein eigenes Denken er-
munterte mich durch das Faktum, dass der Fachgenosse in Befragung der Existenz
philosophiert.«333
19. Heideggers Kritik
Heidegger sieht in Jaspers’ Buch von Beginn an weniger ein psychologisches als viel-
mehr ein philosophisches Werk, was sich u.a. darin zeigt, dass er seine Kritik dezidiert
als »philosophische Kritik« verstanden wissen will, der es um das »Prinzipielle« geht.334
Als das der Psychologie der Weltanschauungen zugrunde liegende »eigentlich Gegen-
ständliche« erfasst Heidegger nicht etwa die Weltanschauungen, sondern die Existenz,
verstanden als das Phänomen des »ich bin«. Da das Bewusstsein der Existenz gerade
durch das Bewusstsein der antinomischen Situation des Menschseins aufgehe, falle
von den Grenzsituationen Licht auf das lebendige Dasein. In der kritischen Analyse
der Grenzsituationen, dem für ihn »stärksten Abschnitt der Jaspers’schen Untersu-
chung«, sieht er den »das Ganze der Arbeit verfestigenden Kern«.335
Entscheidend ist für Heidegger die Erfahrung, »daß ich mich habe, die Grunder-
fahrung, in der ich mir selbst als Selbst begegne, so daß ich, in diesem Erfahren lebend,
seinem Sinn entsprechend fragen kann nach dem Wie meines »ich bin<.«336 Daraus er-
gibt sich für die philosophische Reflexion eine weitreichende hermeneutische Schwie-
rigkeit, nämlich dass die Grunderfahrung des »Mich-selbst-habens nicht ohne weite-
res verfügbar« ist und deshalb »der Erfahrungsvollzug in der vollen Konkretion des
>ich< seinen Ursprung nehmen und auf dieses in einem bestimmten Wie zurückzielen«
muss. Diese Erfahrung ist für Heidegger nicht eine »immanente Wahrnehmung in
332 K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 98.
333 DLA, A: Jaspers.
334 M. Heidegger: »Anmerkungen«, 2 (hier und im Folgenden zitiert nach M. Heidegger: GA 9).
335 Ebd.,11.
336 Ebd., 29.