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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0067
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LXVI

Einleitung des Herausgebers

das appellative Ziel des Buches ansieht, nämlich eine echte Selbstbesinnung anzure-
gen, könne man nur sinnvoll freigeben, wenn diese »da« sei, »und sie ist nur da in ei-
nem strengen Gewecktwerden, und echt geweckt werden kann sie nur so, daß der An-
dere in bestimmter Weise rücksichtslos in die Reflexion hineingetrieben wird.« In die
Reflexion hineintreiben, aufmerksam machen, könne man aber »nur so, daß man den
Weg selbst eine Strecke vorangeht«.343
Um also die singuläre Grunderfahrung des Sich-selbst-habens erschließen zu kön-
nen, bedarf es nach Heidegger der reflexiven Vergegenwärtigung des je eigenen Seins,
und zwar einer reflexiven Vergegenwärtigung, die sich nicht auf theoretischer Ebene
selbst verdinglicht, sondern die angesichts der Erfahrung der Antinomien des Seins -
den Grenzsituationen - das Selbst zur Übernahme der Verantwortung für die Verwirk-
lichung seines singulären Seins aufruft. Weil das Selbst sich in seinen selbstweltlichen,
mitweltlichen und umweltlichen Bezügen manifestiert, ist dabei für Heidegger auch
das Wie des eigenen Selbstverhältnisses, das Wie seiner intersubjektiven Situiertheit
und das Wie seiner Objektbezüge aufklärungsbedürftig.
Dass Heidegger die Analyse der Grenzsituationen als das stärkste Moment des Bu-
ches ansieht, überrascht vor diesem Hintergrund nicht. Denn diese bilden gleichsam
den tieferen Ursprung der Frage nach dem Sein. Auch wenn Heideggers Engführung
als Verkürzung erscheint, indem er etwa die hermeneutische Ergiebigkeit der Ideal-
typenbildung komplett ignoriert,344 trifft sie durch Betonung des mit Kierkegaard im-
portierten Existenzbegriffs doch den unbewussten philosophischen Nerv. Denn nur,
wenn das Sich-selbst-haben als Grundfrage des Buches erfasst wird, erhält Jaspers’ im
Vorwort erwähntes Ziel, eine Selbstbesinnung freizugeben, wirklich einen tieferen
Sinn. Indem Heidegger das Existenzphänomen und die es erschließenden Grenzsitu-
ationen als zentrale Themen der Psychologie der Weltanschauungen akzentuiert und
Jaspers auf diese Weise das »geheime Ideal« spürbar werden lässt, von dem er wenige
Jahre später spricht,345 lässt Heidegger die Psychologie der Weltanschauungen gewisserma-
ßen durch seine »Anmerkungen« als »im historischen Rückblick [...] früheste Schrift
der später so genannten modernen Existenzphilosophie«346 erscheinen. Dazu passt,
dass Heideggers Kritik trotz anfänglicher Einigkeit mit Rickert über die Notwendigkeit

343 Ebd., 42.
344 Entgegen der offensiven Interpretation in den »Anmerkungen« hegte Heidegger im Vorfeld durch-
aus Zweifel, ob er Jaspers’ Intention gerecht würde. Am 27. August 1920 schreibt er an Rickert:
»Und vielleicht wird jede philosophische Beurteilung dem Jaspersschen Buch Unrecht tun, da es
nicht in diese Dimension überhaupt hineinkommt« (M. Heidegger, H. Rickert: Briefe, 51). Spätes-
tens nach Erhalt des Buches Strindberg und van Gogh 1922 war sich Heidegger allerdings sicher,
»daß in der [seiner] Kritik der Psychologie der Weltanschauungen Ihre Untersuchungen doch in
die rechte positive Problemtendenz gestellt sind« (M. Heidegger an K. Jaspers, 27. Juni 1922, in:
M. Heidegger, K. Jaspers: Briefwechsel, 25).
345 Vgl. Stellenkommentar Nr. 2.
346 K. Jaspers: Philosophische Autobiographie, 33.
 
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