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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0116
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Psychologie der Weltanschauungen

23

| EINLEITUNG.

§ 1. Was eine »Psychologie der Weltanschauungen« sei.
Was19 ist Weltanschauung? Etwas Ganzes und etwas Universales. Wenn z.B. vom Wis-
sen die Rede ist: nicht einzelnes Fachwissen, sondern das Wissen als eine Ganzheit,
als Kosmos. Aber Weltanschauung ist nicht bloß ein Wissen, sondern sie offenbart
sich in Wertungen, Lebensgestaltung, Schicksal, in der erlebten Rangordnung der
Werte.20 Oder beides in anderer Ausdrucksweise: wenn wir von Weltanschauungen
sprechen, so meinen wir Ideen,21 das Letzte und das Totale des Menschen, sowohl sub-
jektiv als Erlebnis und Kraft und Gesinnung, wie objektiv als gegenständlich gestal-
tete Welt.
Die Beschäftigung mit dem Ganzen nennt man Philosophie. Insofern könnte auch
dieses Buch ein philosophisches heißen.22 Es nennt sich aber eine »Psychologie« der
Weltanschauungen. Ohne über Namen streiten zu wollen, sei der Sinn dieser Bezeich-
nung festgelegt durch einige Thesen, denn die Stellung der Psychologie ist heute un-
klar und unfertig:
Philosophie hieß von jeher das Ganze der Erkenntnis. Alle Erkenntnis ist philoso-
phisch, sofern sie mit zahllosen Fäden an das Ganze gebunden ist. Die Loslösung ei-
ner wissenschaftlichen Sphäre von der Universitas23 ist, wenn sie faktisch geschieht,
deren Tod: statt Erkenntnis bleibt Technik und Routine, an die Stelle der Bildung des
Geistes, der im Elemente der Erkenntnis, während er fachlich Einzelstoff bearbeitet,
doch immer universal gerichtet ist, treten Menschen ohne alle Bildung, die nur noch -
vielleicht vortreffliche - Werkzeuge haben und pflegen. Diese Entwicklung ist tatsäch-
lich seit langem eingetreten. Indem diese Trennung aber beiderseits geschah, die Phi-
losophen sich ebensowenig um die konkreten Sphären der Erkenntnis, wie die
Fachwissenschaftler um die Universitas des Erkennens kümmerten, verloren beide, was
früher Philosophie hieß. So ist es für die moderne Welt vielleicht charakteristisch, daß
die besten Philosophen nicht immer die »Philosophen« sind, sondern einzelne unge-
wöhnliche Fachwissenschaftler. Wenn der beste Philosoph heißen darf, wer am mei-
sten universal und konkret ist - ohne bloß enzyklopädisch zu sein - und wer am wei-
testen den Geist der Gegenwart in sich aufnimmt, begreift, aussagt, mitgestaltet, so ist
heute der beste Philosoph vielleicht ein Fachwissenschaftler, der nur | gleichsam mit 2
den Füßen in einem Fache steht, faktisch aber allseitig Beziehungen der Erkenntnis
sucht - immer konkret - und in Wechselwirkung mit der Realität steht, wie sie leibhaf-
tig gegenwärtig ist. Es könnte sein, daß in diesem uralten Sinn von Philosophie ein Na-
 
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