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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0154
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Psychologie der Weltanschauungen

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nicht erstarren. Ohne solche Schemata kein Wissen, ohne solche Schemata keine Ord-
nung der Intellektualität, ohne die Fähigkeit, die Schemata abzuschütteln, sie wissend
und nutzend über ihnen zu stehen, keine Bildung und kein lebendiges Sehen.
Am befriedigendsten ist unserem systematischen Bedürfnis natürlich eine alles be-
herrschende systematische Grundstellung. Hegels Phänomenologie ist durch ihren
durchgeführten, dialektisch-genetischen Charakter solch eine Einheit (wobei der eine
Prozeß dialektische, genetische, differenzierende Entwicklung ungeschieden umfaßt).
Trotz aller Bewunderung, trotz der Unmöglichkeit, auch nur etwas zu Vergleichendes
diesem Werk entgegensetzen zu können, sind wir unbefriedigt von dieser systemati-
schen Einheit. Sie vergewaltigt zu deutlich und endgültig, weil kein Moment des Auf-
hebens dieser Vergewaltigung vorhanden ist. Sie ist mehr als psychologisch, und sie
ist psychologisch wiederum unvollständig. Wir fühlen durch sie unseren Horizont be-
grenzt. Wir müssen in die Weite des Psychologischen hinaus, wo wir zwar allzuviel
bloße Aufzählung, zuviel Katalog, dafür aber auch systematische Ansätze, die sich
nicht verabsolutieren, haben. Wir werden die HEGELschen Gesichtspunkte und Be-
schreibungen zum Teil dankbar benutzen, aber sie unvermeidlich ihres Schwungs, ih-
rer philosophischen Gestalt berauben, da wir sie nur psychologisch nehmen.
Das Streben nach Vollständigkeit, das uns als wissenschaftliche Betrachter leitet,
scheint hoffnungslos. Wir vermögen auch niemals Vollständigkeit des Stoffs auch nur
zu wünschen, das wäre sinnlos. Aber wir können anstreben - wenn auch nicht errei-
chen - die Vollständigkeit der Gesichtspunkte, der Prinzipien. Der Stoff wird immer
endlos sein, ein jeder kennt nur einen ganz kleinen Teil.
Alle Weltanschauungen sind durch die vier Gesichtspunkte der Echtheit, Forma-
lisierung, Differenzierung und Verabsolutierung nach ihrem Ort bestimmbar oder we-
nigstens daraufhin zu befragen. Diese Orte aber sind für eine Psychologie der Weltan-
schauungen nicht zu einem geschlossenen Kreise, überhaupt nicht endgültig
angeordnet. Über allem Differenzierten bleiben weitere Differenzierungen möglich,
hinter aller Echtheit bleibt noch eine tiefere zu suchen, von der aus jene frühere eine
Farbe des Unechten hat, alles Wesenhafte kann den Charakter des relativ mehr For-
malen gewinnen, und jede noch so umfassende formulierte Weltanschauung ist ir-
gendwann als isolierende Verabsolutierung zu begreifen. Nirgends sind der relativisti-
schen, psychologischen Betrachtung Grenzen gesteckt, überall sieht sie nur ein
vorläufiges Ende. Die Reihen können sich erweitern. Eine Geschlossenheit und Abso-
lutheit können nur die erschöpfenden Disjunktionen des Verstandes vortäuschen, sie
sind direkt nicht zu erweitern, aber, zurückgehend auf die der jeweiligen Polarität zu-
grunde liegende Sphäre oder Kraft, kann von da aus weiteres gesehen werden, weite-
res sich entwickeln. Unvermeidlich befinden wir uns mit jedem Schema, jeder syste-
matischen Anordnung in der augenblicklichen Täuschung, eine Vollständigkeit
erreicht zu haben. Wird diese Täuschung befestigt, dann hört unsere Forschung auf,
sind wir als Betrachtende des uns spezifischen Lebens beraubt.

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