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Psychologie der Weltanschauungen
66 Wort, Bild, Ton. In jedem Falle ist Anschauung ein Letztes, auf das zwar | durch viele
Vermittlungen hingelenkt wird, das aber von j edem unmittelbar gesehen werden muß.
Sie ist als ein Unmittelbares im rationalen Sinn nicht beweisbar, sondern Voraussetzung;
sie wird vom einzelnen Menschen gesehen oder nicht gesehen, und damit hat man
sich abzufinden.
Nach der Fülle des Anschaulichen hat unser Wesen eine starke Sehnsucht. Wie das
Auge nach dem Sichtbaren strebt, so streben alle schauenden Organe des Geistes da-
nach, sich mit anschaubaren Inhalten zu erfüllen. Der Unterschied, daß die einen In-
halte von äußeren realen Gegebenheiten stammen, die anderen von inneren Erlebnis-
sen und schaffendem Sehen, kann das ihnen gemeinsame Band des Anschaulichen
oder Intuitiven nicht lösen.
Die Gegenstände dieser Anschauung sind zunächst die Sinnenwelt und die Seelen-
welt. Auf den anschaulichen Einzelelementen dieser Welten erhebt sich der Bau des
»schaubaren« Geistes in Zusammenhängen, Symbolen, Einheitsbildungen, typischen
Gestalten, Ideen. Diese alle sind nicht durch einzelne Sinnesinhalte oder seelische Phä-
nomene, sondern nur darin und darüber gegeben. Von dem unmittelbaren »Sehen«
der Kausalzusammenhänge in der Natur (im Gegensatz zu rational gedachten und kon-
struierten Kausalzusammenhängen) bis zum Sehen psychologischer Zusammen-
hänge, die eine Persönlichkeit aufbauen, vom Sehen eines Tiertypus, eines Charakter-
typus bis zum Sehen der Ideen und Symbolinhalte gibt es eine gewaltige Masse von
Anschauungen, die unübersehbar das Bewußtsein erfüllen. In ihnen schafft die ästhe-
tische Einstellung Isolierungen und schafft die Kunst Gestalten, welche einen Aus-
druck bedeuten, die rationale Einstellung Formungen in Begrenzungen und Beziehun-
gen, und die Erkenntnis Ordnungen, in welchen die Anschaulichkeiten kritisch
begrenzt, als Täuschungsquellen verworfen, als Wahrheitsquellen anerkannt, als fik-
tive Hilfsmittel benutzt werden.
Wenn wir den Besitz von Anschauungen im weitesten Sinne »Erfahrung« nennen,
so gibt es zwei große Gruppen von Erfahrungen: Erstens die Erfahrung im empirischen
Sinne, das heißt die äußere, unbegriffene Feststellung von Sinnesdaten, »Tatsachen«,
in Dasein, Koexistenz und Sukzession; zweitens die Erfahrung in einem ganz anderen
innerlichen Sinn als das Horchen auf das, was gegeben wird, als das Schauen und Erleben
in Situationen, Gemütsbewegungen, in den Wertungen und in der Bewegtheit durch
Ideen. Für die Unterscheidung der zwei Arten der Anschauung ließe sich der einfache
Satz des Aristoteles verwenden: »Wie sich der Gesichtssinn verhält zu den sichtba-
ren Dingen, so verhält sich der Geist zu den geistigen.«74 Gemeinsam ist allen anschau-
67 enden, | erfahrenden Einstellungen die Passivität, das Gegebenwerden, die Unabhän-
gigkeit vom eigenen, willkürlichen Formen, die Fülle des Inhalts und die
Eigengesetzlichkeit der betreffenden angeschauten Gegenstandssphären.
Der große Unterschied der verschiedenen Anschaulichkeiten und die besondere
Stellung der sinnlichen Anschauung haben wohl die Meinung veranlaßt, alle nicht
Psychologie der Weltanschauungen
66 Wort, Bild, Ton. In jedem Falle ist Anschauung ein Letztes, auf das zwar | durch viele
Vermittlungen hingelenkt wird, das aber von j edem unmittelbar gesehen werden muß.
Sie ist als ein Unmittelbares im rationalen Sinn nicht beweisbar, sondern Voraussetzung;
sie wird vom einzelnen Menschen gesehen oder nicht gesehen, und damit hat man
sich abzufinden.
Nach der Fülle des Anschaulichen hat unser Wesen eine starke Sehnsucht. Wie das
Auge nach dem Sichtbaren strebt, so streben alle schauenden Organe des Geistes da-
nach, sich mit anschaubaren Inhalten zu erfüllen. Der Unterschied, daß die einen In-
halte von äußeren realen Gegebenheiten stammen, die anderen von inneren Erlebnis-
sen und schaffendem Sehen, kann das ihnen gemeinsame Band des Anschaulichen
oder Intuitiven nicht lösen.
Die Gegenstände dieser Anschauung sind zunächst die Sinnenwelt und die Seelen-
welt. Auf den anschaulichen Einzelelementen dieser Welten erhebt sich der Bau des
»schaubaren« Geistes in Zusammenhängen, Symbolen, Einheitsbildungen, typischen
Gestalten, Ideen. Diese alle sind nicht durch einzelne Sinnesinhalte oder seelische Phä-
nomene, sondern nur darin und darüber gegeben. Von dem unmittelbaren »Sehen«
der Kausalzusammenhänge in der Natur (im Gegensatz zu rational gedachten und kon-
struierten Kausalzusammenhängen) bis zum Sehen psychologischer Zusammen-
hänge, die eine Persönlichkeit aufbauen, vom Sehen eines Tiertypus, eines Charakter-
typus bis zum Sehen der Ideen und Symbolinhalte gibt es eine gewaltige Masse von
Anschauungen, die unübersehbar das Bewußtsein erfüllen. In ihnen schafft die ästhe-
tische Einstellung Isolierungen und schafft die Kunst Gestalten, welche einen Aus-
druck bedeuten, die rationale Einstellung Formungen in Begrenzungen und Beziehun-
gen, und die Erkenntnis Ordnungen, in welchen die Anschaulichkeiten kritisch
begrenzt, als Täuschungsquellen verworfen, als Wahrheitsquellen anerkannt, als fik-
tive Hilfsmittel benutzt werden.
Wenn wir den Besitz von Anschauungen im weitesten Sinne »Erfahrung« nennen,
so gibt es zwei große Gruppen von Erfahrungen: Erstens die Erfahrung im empirischen
Sinne, das heißt die äußere, unbegriffene Feststellung von Sinnesdaten, »Tatsachen«,
in Dasein, Koexistenz und Sukzession; zweitens die Erfahrung in einem ganz anderen
innerlichen Sinn als das Horchen auf das, was gegeben wird, als das Schauen und Erleben
in Situationen, Gemütsbewegungen, in den Wertungen und in der Bewegtheit durch
Ideen. Für die Unterscheidung der zwei Arten der Anschauung ließe sich der einfache
Satz des Aristoteles verwenden: »Wie sich der Gesichtssinn verhält zu den sichtba-
ren Dingen, so verhält sich der Geist zu den geistigen.«74 Gemeinsam ist allen anschau-
67 enden, | erfahrenden Einstellungen die Passivität, das Gegebenwerden, die Unabhän-
gigkeit vom eigenen, willkürlichen Formen, die Fülle des Inhalts und die
Eigengesetzlichkeit der betreffenden angeschauten Gegenstandssphären.
Der große Unterschied der verschiedenen Anschaulichkeiten und die besondere
Stellung der sinnlichen Anschauung haben wohl die Meinung veranlaßt, alle nicht