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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0174
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Psychologie der Weltanschauungen

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Wünsche, irgendwelcher Zu- und Abneigung) ist seine Einstellung. Es ist alles so fernge-
rückt, ein Gefühl der Befreiung und der verantwortungslosen Fülle tritt ein. Das Bild aber
ist eine Einheit und Totalität für ihn, und in der Anschauung hat es vielleicht zugleich
Symbolcharakter. Er sieht den Sterbenden, wie Rembrandt einen Bettler sah.76
Die Isolierung ist formal das Entscheidende für die ästhetische Einstellung. Isola-
tion heißt hier sowohl die Loslösung des Erlebnisinhalts aus den objektiven Zusam-
menhängen, wie des Erlebnisses selbst aus den psychologischen Zusammenhängen
determinierender Art, wie Aufgaben, Zwecken, Willensrichtungen. Die Loslösung, die
Kant als das »interesselose Wohlgefallen«,77 Schopenhauer als die Befreiung von der
Begier des Willens schildert,78 bringt zugleich die eigentümliche Verantwortungslo-
sigkeit. Statt sich grenzenlos auf das unendliche Ganze zu beziehen, wird ein Losgelö-
stes und Isoliertes für das Ganze gesetzt. Der Inhalt kann von einer bloßen sinnlichen
Impression bis zum Erlebnis eines Kosmos alle Arten und Umfänge durchlaufen, er
kann in bloß unmittelbarer Anschauung oder im | Symbol bestehen, er kann sinnlich,
seelisch oder geistig sein, kann die sublimierten metaphysischen Gebilde umfassen
usw. Aber es besteht im Subjekt immer dieselbe Unverantwortlichkeit, ob nun das Iso-
lierte ein vereinzelter Reiz oder ein Kosmos ist, ob ein gleichgültig Sinnliches oder eine
Idee in sich abgeschlossen wird. Ein ganzes universales »Weltbild« kann ästhetisch
fungieren, weil eben jedes »Bild« eine Herauslösung und nie in Wahrheit total ist.
In dieser Isolierung des Erlebnisses und des Gegenständlichen bemächtigt sich die
ästhetische Einstellung eines Substantiellen, insofern das Isolierte und Umgrenzte er-
füllt von Idee, insofern es Symbol und Kosmos von relativer Totalität ist. Der Inhalt ist
als Kunstwerk in sich gegliedert, hat eine innere Form. Die geschaffene Gestalt hat et-
was Notwendiges und Zwingendes. Der Künstler ist erfüllt von einer spezifischen Ver-
antwortung des Schaffenden, gehorsam einem Gesetz zu sein, das er nicht kennt, aber
in der Schöpfung erfährt. Diese Verantwortung ist vorhanden bei der gleichzeitigen
Verantwortungslosigkeit alles Ästhetischen, was Wirklichkeit und Totalität des Daseins
betrifft. Sie ist bezogen nur auf das isolierte Werk.
Das Ästhetische wird in Ableitungen formalisiert, wenn bloße Formen übrigblei-
ben, Gesetze ohne Idee, bloße Impressionen und Fragmente, wenn Artistik an die Stelle
der vollständigen ästhetischen Einstellung tritt. Der Inhalt der ästhetischen Einstel-
lung ist dann nicht mehr Totalität in sich, nicht Kosmos von Symbolcharakter.
Zweideutig und dann auch leicht unecht wird die ästhetische Einstellung, wenn
sie wieder Beziehung zur Wirklichkeit, zur Aktivität, zum Wirkenwollen nimmt, wenn
sie »interessiert« wird. Die Isolierung ist nicht festgehalten, sondern in den Formen
der Isolierung etwas geboten, das in die Wirklichkeit des Lebens eingreifen will. Wie
die Wissenschaft in prophetischer Philosophie zweideutig wird, so Kunst als inhaltli-
che Prophetie. In den Formen ästhetischer Einstellung gilt die spezifische Unverant-
wortlichkeit und zwischen dieser und der verantwortlichen Lebenswirkung schwankt
das Bewußtsein unklar hin und her.

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