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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0198
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Psychologie der Weltanschauungen

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Hegel schildert das Dasein solcher selbstgestalteter Persönlichkeiten, als er von
Sokrates spricht'):111 »Er steht vor uns als eine von jenen großen plastischen Naturen,
durch und durch aus einem Stück, wie wir sie in jener Zeit zu sehen gewohnt sind, -
als ein vollendetes klassisches Kunstwerk, das sich selbst zu dieser Höhe gebracht hat.
Sie sind nicht gemacht, sondern zu dem, was sie waren, haben sie sich vollständig aus-
gebildet; sie sind das geworden, was sie haben sein wollen, und sind ihm getreu gewe-
sen. In einem eigentlichen Kunstwerke ist dies die ausgezeichnete Seite, daß irgend-
eine Idee, ein Charakter hervorgebracht, dargestellt ist, so daß jeder Zug durch diese
Idee bestimmt ist; und indem dies ist, ist das Kunstwerk einerseits lebendig, anderer-
seits schön, - die höchste Schönheit, die vollkommenste Durchbildung aller Seiten der
Individualität ist nach dem einen innerlichen Prinzipe. Solche Kunstwerke sind auch
die großen Männer jener Zeit. Das höchste plastische Individuum als Staatsmann ist
Perikles,112 und um ihn, gleich Sternen, Sophokles,113 Thucydides,114 Sokrates usw.
Sie haben ihre Individualität herausgearbeitet zur Existenz, - und das zu einer eigen-
tümlichen Existenz, die ein Charakter ist, der das Herrschende ihres Wesens ist, ein
Prinzip durch das ganze Dasein durchgebildet. Perikles hat sich ganz allein dazu ge-
bildet, ein Staatsmann zu sein; es wird von ihm erzählt, er habe seit der Zeit, daß er sich
den Staatsgeschäften widmete, nie mehr gelacht, sei zu keinem Gastmahl mehr gegan-
gen, habe allein diesem Zwecke gelebt. So hat auch Sokrates durch seine Kunst und
Kraft des selbstbewußten Willens sich selbst zu diesem bestimmten Charakter, Lebens-
geschäft ausgebildet, Festigkeit, Geschicklichkeit erworben. Durch sein Prinzip hat er
diese Größe, | diesen langen Einfluß erreicht, der noch jetzt durchgreifend ist in Bezie-
hung auf Religion, Wissenschaft und Recht, - daß nämlich der Genius der inneren
Überzeugung die Basis ist, die dem Menschen als das Erste gelten muß.«
Diese »plastischen Naturen« sind ihrem Wesen nach im Prozeß der Selbstgestaltung.
Sie halten sich selbst nicht für das Ideal, und sie fordern es nicht, vom anderen dafür
angesehen zu werden. Sie wollen nicht das Absolute in der vollendeten Verwirklichung
sein. Von ihnen aber geht der Impuls aus zur Selbstgestaltung jedes substantiellen
Selbst, die Forderung Nietzsches: Folge nicht mir nach, sondern dir.115 Für die Welt-
anschauung, in der diese Form der Selbstgestaltung, die inhaltlich unbestimmt bleibt,
nicht auf Rezepte gebracht werden kann, verabsolutiert wird, sind diese Persönlich-
keiten das höchste, erreichbare Geisterreich. Es sind Persönlichkeiten, die allein dem
Späteren Vertrauen in Leben und Dasein geben, soweit er es nicht in sich selbst hat, es
sind aber keine Vorbilder als nur im Formalen; sie sind nichts Absolutes, sondern sie
gewähren und fordern von jedem Selbst das eigene Recht, und sei es das Recht eines
Sandkorns gegen einen Felsen: beide sind sie Substanz.
Diese Persönlichkeiten wollen in ihrer Selbstgestaltung nicht gleichgültiger gegen
Glück und Unglück, sondern im Reichtum sinnvoller werden, sie wollen nicht ein Ziel

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Hegel W. W. 14, 54ff.
 
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