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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0200
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Psychologie der Weltanschauungen

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Da sie nicht in einem aufbauenden Prozeß, sondern in einem metaphysischen Sein
existiert, liebt sie einfach weiter, nicht fragend, wozu es führt; oder in der selbstver-
ständlichen Voraussetzung, daß es zum Guten führt. Im Buddhismus glaubt der
Mensch, daß die Liebe unangreifbar, unzerstörbar, allmächtig überall ist; man erwar-
tet von ihr, gegen alle wirkliche Erfahrung, Macht. Die Liebe zum Menschen bewegt
sich durch die ganze Skala vom Natürlich-Primitiven bis zum höchsten Seelenver-
ständnis, aber unindividuell der Absicht nach. So wird uns das Leben in Milde und
Liebe, in Freundschaft und aufopfernder Gegenseitigkeit von Buddhisten, von den frü-
hen Franziskanern geschildert. Jeder will nicht er selbst | sein, verzichtet auf sich, und 101
es entsteht die verschwommene Atmosphäre, aus der eine Intention auf Jenseitiges
das allein Gemeinsame und Positive ist.
3. Ein Prozeß bleibt, aber nicht eine Gestaltung der Persönlichkeit, sondern Gestal-
tung des Bewußtseinszustandes. Statt eines Bildungsprozesses gibt es einen »Pfad«. Es
gibt einen Weg aus dem Bewußtseinszustand, in dem wir alle leben, aus dieser Art von
Subjekt-Objektspaltung heraus, aus dieser Sphäre des Denkens, Fragens zu höheren
und höheren Bewußtseinszuständen, die wohl auch als »Erkennen« bezeichnet wer-
den. Diese Erkenntnis aber ist keine des Verstandes und des Denkens, durch Denken
und die Formen des Denkens nicht übertragbar, sondern nur zu fassen, indem der an-
dere denselben Pfad geht. Unbegreiflich ist von einem anderen Bewußtseinszustand
her die Erkenntnis des höheren. Nur dem Vorbereiteten kann Verständnis zugemutet
werden. Unbegreiflich ist ebenso jene Art von Liebe, die von hierher sich einen Sinn
gibt, der nach allen Arten des Verstehens in unserer Bewußtseinswelt unfaßlich ist.
Unserer Zeit am fernsten und schwersten faßbar ist sowohl der echte Seinstypus des
Heiligen wie die Gestaltung unter dem Leitbilde seiner Vorstellung. Völlige Losgelöstheit
von allem Diesseitigen und allem Lebendigen mit dem positiven Inhalt metaphysischer
Geborgenheit - so kann man äußerlich den Typus beschreiben. Wer ihm nachstrebt, wi-
dersetzt sich nicht dem Leiden, ja will es, sucht an keine Realität in Zeit und Raum ir-
gendwie gefesselt zu sein, verwirft alle Inhalte, Aufgaben, wie alle Genußmöglichkeiten.
Schopenhauer beschreibt den Typus, wie er ihn bei den Hindu ausgebildet sieht:
»Liebe des Nächsten mit völliger Verleugnung aller Selbstliebe; die Liebe überhaupt nicht auf
das Menschengeschlecht beschränkt, sondern alles Lebende umfassend; Wohltätigkeit bis zum
Weggeben des täglich sauer Erworbenen; grenzenlose Geduld gegen alle Beleidiger; Vergeltung
alles Bösen, so arg es auch sein mag, mit Gutem und Liebe; freiwillige und freudige Erduldung
aller Schmach; Enthaltung aller tierischen Nahrung, völlige Keuschheit und Entsagung aller
Wollust für den, welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles Eigentums, Verlas-
sung jedes Wohnorts, aller Angehörigen, tiefe gänzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschwei-
gender Betrachtung, mit freiwilliger Buße und schrecklicher, langsamer Selbstpeinigung, zur
gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis zum freiwilligen Tode geht durch Hun-
ger.«116 »Was sich so lange erhält und überall wieder neu entsteht«, kann nicht willkürlich er-
sonnene Grille sein, sondern muß im Wesen der Menschheit seinen Grund haben."7 »Es ist
 
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