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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0237
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Psychologie der Weltanschauungen

ßenstehender zu überblicken, kommt es darauf an, jedes Gehäuse, in dem wir leben,
in Frage zu stellen und nicht selbstverständlich zu finden, sondern umgekehrt vor-
auszusetzen, daß es nur eine Möglichkeit unter anderen sein werde. Es kommt darauf
an, das einzelne Weltbild als charakteristischen Typus zu erfassen, es in seinen Eigen-
schaften und Möglichkeiten möglichst präzise zu beschreiben. Dazu ist nötig, nicht
nur äußerlich wissend sich Stoff an Inhalten intellektuell anzueignen, sondern sich
in die weltbildartigen Gehäuse innerlich vergegenwärtigend, verstehend hineinzu-
versetzen.
Diese Aufgabe einer verstehenden Psychologie der Weltbilder, die Welt, in der Men-
schen leben, nicht nur gedanklich zu wissen, sondern verstehend nachzuerleben, ist
keineswegs ohne weiteres leicht. Man will isolieren und trägt doch immer wieder Vor-
aussetzungen aus anderen Weltbildern mit hinein und trübt den reinen Typus. Am in-
struktivsten ist es, sich die verabsolutierten einzelnen Weltbilder zu vergegenwärtigen.
Da faktisch viele Menschen nur in Ausschnitten der uns theoretisch bekannten Welt-
bilder leben, suchen wir uns diese Ausschnitte recht lebendig vorzustellen. Man ist
doch aber unwillkürlich immer geneigt, das eigene Wissen, das eigene Weltbild auch
beim anderen als irgendwie vorhanden anzunehmen, das eigene Gehäuse, das einem
so selbstverständlich ist, auch beim anderen vorauszusetzen. Man irrt auf beide Wei-
sen: Dadurch, daß man etwas erwartet, was gar nicht da ist, und dadurch, daß man,
was da ist, nicht sieht, weil man unwillkürlich das eigene Weltbild immer wieder in
den anderen überträgt.
Wenn wir die Weltbilder als die »Gehäuse« psychologisch betrachten, so haben wir
die Vorstellung, daß die Weltbilder auch subjektive Eigenschaften haben, daß sie ver-
schieden sein können, ohne daß einem von ihnen der Vorzug gegeben werden müßte.
Ist man beherrscht von dem Gegensatz des Richtigen und Falschen, so wird man diese
psychologische Betrachtung identifizieren mit einer solchen, die alles für falsch, für
143 Täuschung hält. Jedoch die Lage ist nicht so | einfach. Das psychologische Denken be-
findet sich hier in einer Spannung: Einerseits ist jedes Weltbild, das der Mensch hat,
eine individuelle Perspektive, ein individuelles Gehäuse, das als Typus, aber nicht als
das absolut allgemeine Weltbild generalisiert werden kann. Andererseits setzen wir im-
mer die Idee eines absoluten, allgemeingültigen, allumfassenden Weltbildes, oder eines
hierarchisch geordneten Systems der Weltbilder voraus. Von diesem aus betrachtet ist
ein besonderes Weltbild eines einzelnen Menschen eben »perspektivisch« in bezug auf
dieses allgemeine Weltbild, oder ist es ein »Ausschnitt« aus dem ganzen Weltbild. Dem
generellen Weltbild treten die mannigfaltigen persönlichen, lokalen, zeitbedingten,
völkercharakteristischen Weltbilder gegenüber. Sofern die Weltbilder objektivierte
Kräfte, Schöpfungen des Menschen sind, sind sie subjektiv, sofern aber mit jedem sol-
chen Akt der Mensch in eine eigengesetzliche Welt des Allgemeinen hineinwächst, so-
fern er von dem, was er gebildet hat, sofort auch beherrscht wird, ist jedes Weltbild zu-
gleich objektiv.
 
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