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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0248
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Psychologie der Weltanschauungen

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Die individuelle Analyse dessen, wie der Einzelne es erlebt, führt andererseits ins
Ganze der psychologischen Zusammenhänge. Denn, wie wir die gegenwärtige Welt
sehen, das mag zwar in der rein sinnlichen Grundlage ähnlich sein, in Auswahl, Auf-
fassung, Wesentlichkeitsbetonung aber ist es von unserem gesamten sonstigen Welt-
bild, unseren Erlebnissen, unserer Vergangenheit abhängig. Nach diesen Momenten
der Betonung könnte man in der unmittelbar erlebten Welt eine Wichtigkeitswelt (Be-
deutungswelt, Interessenwelt) herausheben.
Ein großer Schritt zur Erweiterung des räumlichen Weltbildes wird getan, wenn die
Welt hinter dem unmittelbar Erlebten zum Inhalt unseres Vorstellens wird. Begonnen mit
Erinnerungen aus der eigenen Vergangenheit, vermehrt durch Erfahrungen und Be-
richte anderer, wird es abgeschlossen durch Entwicklung dessen, was kein Mensch se-
hen und wahrnehmen kann, was aber prinzipiell wahrnehmbar ist und als vorhanden
erschlossen werden kann. So entsteht zunächst in fragmentarischen Ansätzen in je-
dem Menschenkopf ein geographisch-kosmisches Weltbild, das sich zu reich ausge-
bildeten und geordneten Gestalten entfaltet. Dieses entwickelte kosmische Weltbild hat
zwei grundverschiedene Typen:
Erstens den griechischen Typus: Er ist ausgebildet in Aristoteles und Ptolemäus.167
Die Welt ist endlich, wie eine Kugel (Parmenides), in Sphären um ein Zentralfeuer an-
geordnet (Pythagoreer) mit der Erde in der Mitte und mehreren weiteren Schalen bis
zur äußersten Sphäre. Hier gibt es keine Unendlichkeit, sondern den einen, begrenz-
ten, wohlgeordneten Kosmos. Bei Dante als dem Repräsentanten des Mittelalters lebt
er als endliche Geographie des Weltalls noch fort.
| Man muß sich in dieses Weltbild als selbstverständliche Voraussetzung alles An-
schauens der räumlichen Dinge recht eingefühlt haben, um die innere Umwälzung
und die Erschütterung zu begreifen, die der zweite Typus bedeutet. Dieser ist erlebnis-
mäßig am eindringlichsten bei Giordano Bruno entwickelt, nachdem Kopernikus
die Drehung der Erde um die Sonne und um sich selbst erwiesen hatte. Gegenüber der
astronomischen Entdeckung, die die Endlichkeit der Welt nicht ausschloß, erlebte und
entwickelte Giordano Bruno das Bild, das unser heutiges ist: Im unendlichen Raum
unendliche Welten.168 Wer den für die unmittelbare Wahrnehmung so einheitlichen
Sternenhimmel unter Anleitung der Astronomie beobachtend auflöst, erst Planeten
von Fixsternen sehend unterscheidet, dann die Farben der Fixsterne (deren Abküh-
lungsstadien kennzeichnend), dann Nebel und Sternhaufen, dann die Sterndichtig-
keit an verschiedenen Teilen des Himmels, und nun diese Beobachtungen zu Denk-
möglichkeiten entwickelt: alle diese Sterne seien eine Anhäufung in einer großen
Linse, in der wir darum in einem größten Kreise die Sterne sehr dicht, an den Polen re-
lativ wenig Sterne sehen können; die Milchstraße sei ein Sterngewimmel, das die äu-
ßersten Grenzen dieser Linse umgibt; manche Sternennebel mögen andere solche Lin-
sen sein; sieht er weiter Sterne und Nebel, die kein Organ, sondern nur eine stundenlang
exponierte photographische Platte hinter einem Fernrohr aufzunehmen vermag; hört

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